fredag den 26. marts 2010


Tagebuch Martin Walser
"Mit Habermas in Amerika, das wärs"
Ein Schicksal namens Marcel Reich-Ranicki: Martin Walser offenbart in seinen verstörenden Tagebüchern aus den Jahren 1974 bis 1978 das ganze Seelendrama eines Schriftstellers.

© Patrick Seeger/dpa


Martin Walser vor seinem Haus in Nußdorf am Bodenseeufer

Noch sind die Fäden sichtbar, die die deutsche Literatur der Gegenwart mit ihrer gerade mal eben vergangenen Geschichte verbinden. Und daher können wir auch noch jenes seltsame Schauspiel beobachten, das momentan auf diesen Fäden aufgeführt wird. Es tanzen dort Gestalten, zumeist jenseits des 80. Lebensjahres, die uns ihre Geschichte noch einmal virtuos präsentieren. Die Mission ist dabei klar: Sie wollen sich zum Herrscher über ihre Zukunft, ihr Nachleben aufschwingen – und zugleich das Hier und Jetzt wie eh und je lautstark dominieren. Denn leiser haben sie es nicht gelernt. Günter Grass organisiert seit Jahren gewohnt kraftvoll sein Nachleben in seinem eigenen Museum in Lübeck; Erinnerungen, Tagebücher, Briefe und Stasiakten erscheinen unablässig. Und während Hans Magnus Enzensberger seine Briefwechsel mit Peter Hacks und Uwe Johnson aus den Archiven herauslässt, polemisiert er als Weltbürger munter missvergnügt gegen die provinzielle Europäische Union.

Womöglich ist es ihr letzter großer Auftritt, den die begnadeten literarischen Selbstdarsteller dieser Generation aufführen, ein Gesamtkunstwerk der Gleichzeitigkeit: Geschichte werden noch zu Lebzeiten – und zugleich in der Gegenwart immer weiterleben. Es muss ein eigentümliches Gefühl sein, diesen Tanz zwischen den Zeiten zu vollführen. Im Mai 1955 hält Thomas Mann in Weimar seine große Rede zum Schiller-Gedenkjahr. Am gleichen Wochenende bekommt ein junger Rundfunkredakteur für eine Erzählung den Preis der Gruppe 47 bei deren Tagung in Berlin. Und im Januar 2010 steht er mit vielen anderen Menschen auf einem Hof im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, wo Suhrkamp, sein einstiger Verlag, feierlich ein neues Quartier neben Klamottenläden und Coffee-to-go-Shops bezieht: Martin Walser, der immer noch Buch um Buch schreibt, zuletzt die Novelle Mein Jenseits, dieser Schriftsteller Martin Walser wird Geschichte – und bleibt einer von uns.

Lesetipp von Iris Radisch

"Mein Jenseits" von Martin Walser

Walser, der in wenigen Tagen seinen 83. Geburtstag feiert, gehört ebenfalls zu jenen Vergangenheitsinszenierern, die uns noch einmal vorführen wollen, wie sie wurden, was sie sind. Dafür hat er seit einigen Jahren einen speziellen Weg gewählt: Er veröffentlicht zu Lebzeiten seine – dafür naturgemäß leicht bereinigten – Tagebücher. Walter Kempowski und Peter Rühmkorf, die großen Diaristen der Bundesrepublik, haben das für ausgewählte Zeiträume ebenso getan. Und nun Walser: 2005 erschien der erste Band, der die Jahre 1951 bis 1962 umfasst; 2007 kamen dann die Tagebücher von 1963 bis 1973 heraus. Unzählige Blindbände hat Walser im Laufe der Jahrzehnte vollgeschrieben, mit Randzeichnungen und Kritzeleien versehen. Mitnichten ist dabei eine herkömmliche Lebenschronik entstanden; vielmehr sind Walsers Tagebücher ein Assoziationsraum für alles, was ihn umtreibt: Erlebnisse, Gedanken, der Literaturbetrieb, die Familie und die schwer erträglichen Kollegen, die eigenen Werke, Textentwürfe, Aphorismen, Intimes und Öffentliches. Tagebuchschreiben ist für Walser eine Übung im Schauen, Fühlen und Dafür-eine-Sprache-Finden. Impulsives »Hinschreiben« statt pedantisches »Aufschreiben«: So charakterisiert er sein freies Verfahren, das ihn allerdings weniger von anderen Tagebuchschreibern unterscheidet, als er suggeriert.

Nun also präsentiert der Schriftsteller in der dritten Lieferung sein Leben zwischen 1974 und 1978. Beim Lesen dieses Bandes wird auch der größte Walser-Kenner aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Bewunderung und Fassungslosigkeit dürften sich zunächst die Waage halten angesichts der Selbstenthemmung, mit der da einer seine Haut zu Markte trägt. Einiges war man bislang vom Öffentlichkeitsarbeiter Walser gewohnt; Aufmerksamkeit zu erregen war nie das Problem des einstigen Reichsmeisters im Signalwinken bei der Marine-HJ. Doch dieses Tagebuch über seine siebziger Jahre hat eine stärkere Wirkung. Wir lernen Walser besser denn je kennen. Oder genauer gesagt: Wenn wir ihm, dem durchtriebenen Charmeur und versierten Verführer, folgen, glauben wir ihm am Ende, ihn nunmehr besser verstanden zu haben. Es ist zugleich weit mehr als »nur« ein Walser-Tagebuch oder ein anekdotensattes Kompendium zur Literaturgeschichte der siebziger Jahre. Hier werden die Leiden des Schriftstellerdaseins ausgestellt: Wann je hat man sie so präzise-minutiös studieren können wie in diesem Tagebuch?
Die siebziger Jahre sind Krisenjahre für Walser. Seit Längerem erfolglos mit seinen Büchern, gerät er, der Jungstar der Fünfziger und Sechziger, in schweres Gewässer. Politisch ist er weit nach links in DKP-Nähe gedriftet, sehr zum Verdruss seines Verlegers Siegfried Unseld, der ihm 1974 erklärt: »Da hat eben ein Teil der MW-Leser gesagt: Da machen wir nicht mehr mit. Und das sind ja jetzt immer mehr Leute, die da nicht mehr mitmachen.« Walser fühlt sich als Außenseiter im Suhrkamp-Kosmos. 1975 notiert er: »Aber ich sage mir, dass ich von diesem Verlag weggehen werde, sobald ich es mir erlauben kann. Ich will in dieser Umgebung nicht bleiben. Die sollen unter sich sein. In ihrer Feierlichkeit auf Gegenseitigkeit. Eine Papiergemeinde, die sich zum Mittelpunkt der Welt erklärt.« Das Verhältnis zu dem anderen schwer kriselnden Autor jener Jahre, Uwe Johnson, ist zerrüttet, auch wegen dessen »moralischem Narzissmus«: »Der Clinch zwischen Uwe und mir ist jetzt ein Clinch von Zusammenbrechenden.« Neid schärft ihm den Blick auf Kollegen – auf den in sich ruhenden Max Frisch (»Riesenerfolg macht ihn so elastisch. Ich bin das Gegenteil«), auf den »Chefkunstgewerbler« Enzensberger: »HME ist der eindringlichste, unwiderlegbarste, dauerhafteste Beweis, dass ein Intellektueller nie etwas ernst meint. Er meint nur immer wieder sich. Er hängt nicht sein Fähnchen nach dem Wind, sondern er ist das Fähnchen, und das hat bekanntlich keine Wahl zu wehen.« Er meint nur immer wieder sich: Auch eine Selbsterkenntnis? Befreundet unter seinesgleichen fühlt er sich nur noch mit einem: »Ich finde außer Jürgen Habermas keinen mehr ganz erträglich. Mit Habermas in Amerika, das wär’s.« Die Lage erscheint zunehmend ausweglos; auch das Haus kann kaum mehr finanziert werden. »Ich habe nichts anderes mehr zu tun, als das Versagen zu notieren. Aufmotzen notier ich auch. Aufmotzen und Versagen bzw. Versagen und Aufmotzen, das sind meine zwei Lebensinhalte.« Der Gedanke an den Tod taucht auf; der Anblick eines Messers kann ihn auslösen: »Stundenlang, eigentlich schon den ganzen Tag von Mordgedanken, völlig ungerichteten, umhergetrieben. Dieser Druck kann sich gegen jeden richten, auch gegen mich selbst.« All das könnte man noch unter Künstlerdepression oder Midlife-Crisis verbuchen. Doch was ihm dann widerfährt, steigert die Krise zum inneren Ausnahmezustand
»Siegfried rief an heute Morgen und teilte mit, dass von R-R eine ganz negative Kritik morgen in der FAZ publiziert werde«, notiert Walser am 26. März 1976. Anderntags im Zug nach Frankfurt liest er, wie Marcel Reich-Ranicki seinen Roman Jenseits der Liebe ausgiebig und heftig hinrichtet: Es lohne nicht, auch nur eine einzige Seite des Buches zu lesen; Walser sei erneut an einem Tiefpunkt seiner Laufbahn angekommen. In diesem Augenblick wird das Tagebuch zur Überlebenshilfe. Minutiös protokolliert Walser, wie es in ihm tobt, monatelang. Immer wieder rätselt er über die Motive des Frankfurter »Literaturwebels« und registriert seismografisch, wie seine Umgebung reagiert: Was denkt wohl seine Frau Käthe? Wer hat noch nicht angerufen, um sich zu solidarisieren? Noch im Zug hatte Walser eine Rede an Reich-Ranicki entworfen: »Ich sage Ihnen also, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde. Mit der flachen Hand übrigens, weil ich Ihretwegen keine Faust mache.« Und weiter: »Sie werden, bitte, nicht auch noch die Geschmacklosigkeit haben, diese Ankündigung und ihre gelegentliche Ausführung als Antisemitismus zu bezeichnen.« Mittags im Verlag kann ihm Unseld alle Aktionen mühsam ausreden. Dass das Buch ein Erfolg wird, vermag Walser nicht zu trösten: »Ich fühle mich schutzlos.«

Unzählige solcher Seiten sind es, die diesen Band schon jetzt zu einem Klassiker des Schriftstellertagebuchs machen: Wohl selten ist das umkämpfte Innenleben eines Autors so sichtbar geworden. Was nach lächerlichem Wahn klingt, ist bitterer Ernst. Die Abgründe lauern überall: Habermas erklärt, warum Unseld Walser hasst und weshalb er glaube, dass Reich-Ranicki diesen mit Unselds Einverständnis verrissen haben könnte (was Günter Grass ebenfalls glaubt). Natürlich gibt es auch anderes: Seine Frau und seine vier Töchter sind ihm Kraftquell in der Krise. »Ohne Käthe könnte ich nicht leben«, notiert er im Dezember 1975. Es gibt wunderbare Szenen eines Kasinobesuchs oder von Siegfried Unseld, der die Freundin seines Sohnes Joachim übernommen hat, oder den gescheiterten Versuch, Grass zu einem gemeinsamen Pornokino-Besuch zu überreden; dazu Reiseimpressionen aus Japan oder Amerika. Doch selbst dort verfolgt ihn Reich-Ranicki – in einem Traum rennt der Kritiker hinter ihm her, bis der zunächst fliehende Walser merkt: »Ich bin der, der hinter mir herrennt.« Das Leiden des Schriftstellers kennt keine Grenzen, es schwillt an zu einem mäandernden Strom. Natürlich könnten wir den Kopf schütteln über die Maßlosigkeit seiner Klage; immerhin kein Novize, sondern ein Mann von 50 Jahren, der Erfolge und Anerkennung eingeheimst hat und sich dennoch stets ausgeliefert fühlt. Und doch steckt in dieser Walserschen Ich-Seligkeit, deretwegen er den Leser an diesem Tagebuch teilhaben lässt, jene unendliche Sehnsucht nach Liebe, die ihn antreibt. Er reißt sich das Hemd auf und zeigt uns seine Wunden, damit wir ihn verstehen. Damit wir sein kompliziertes, wechselhaftes Verhältnis zum bald 90-jährigen Reich-Ranicki begreifen, das 2002 zum Eklat um Walsers Roman Tod eines Kritikers führte. Als die FAZ Ende 1977 Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd vorabdrucken will, seufzt seine Frau Käthe: »Jetzt sollte man wieder Charakter haben.« Das Buch wird eine Wiederauferstehung, ein Riesenerfolg, Reich-Ranicki lobt hymnisch. So recht freuen kann sich Walser darüber nach allem nicht.

Hier stehe ich und kann nicht anders: Kann man Walser lieben für seine Liebessehnsucht, um deretwillen er uns via Tagebuch an seinen existenziellen Nöten teilhaben lässt, sich wieder und wieder erklären will? Manche mögen solche Entblößungen peinlich finden, doch das war nie ein Walserscher Begriff. Seine Anerkennungskämpfe, seine durchschaubaren Inszenierungen folgen einer sich selbst nicht schonenden Künstlerlogik. Und Walser weiß es ja selbst: »Ich habe ein gestörtes Verhältnis zur Realität.« Insofern ist dieses Tagebuch einer überstandenen Krise ein großartiges, verstörendes Dokument, ja tatsächlich auch ein Vermächtnis: Denn es weist über sich selbst hinaus in die seelischen Untiefen, die jedes große Künstlerdasein kennt.

Martin Walser: Leben und Schreiben

Tagebücher 1974–1978; Rowohlt Verlag, Reinbek 2010; 590 S., kr. 218,50 inkl. moms

Ingen kommentarer:

Send en kommentar