lørdag den 13. marts 2010


 
Rezension ''Atemschaukel'' Das Lager ist eine praktische Welt
 
 
Von Karl-Markus Gauss


Ein europäisches Ereignis: Herta Müllers Roman "Atemschaukel" über die Deportation der Rumäniendeutschen in die Sowjetunion nach 1945.
Die Atemschaukel - ein kühnes Sprachkunstwerk, das seinesgleichen sucht in der europäischen Literatur unserer Zeit. Von seltsamen Dingen, erschreckenden Erscheinungen hören wir in diesem Roman, vom "Hungerengel" und vom "Blechkuss", von "Kartoffelmenschen" und der "Atemschaukel". Der Hungerengel sitzt immer mit am Tisch, wenn die Insassen des Lagers die karge Ration Brot verzehren, die ihnen die "Brotoffizierin" zugeteilt hat, quälend langsam essen die einen, verzweifelt schlingen die anderen; der Hungerengel wacht über ihren Schlaf, er geht durch ihre Träume, begleitet sie in die Fabrik und auf das Feld hinaus, wo sie schuften, bis sie umfallen und in die Grube gekippt werden oder sich irgendwie aufrecht halten, um dann bis zum nächsten Tag in ihre Baracken zurückzukehren.
Sie sind Sträflinge, ohne je verurteilt worden zu sein, und wissen anfangs nicht einmal, in welcher Weite der russischen Steppe sie sich befinden und was ihr Strafmaß ist. Erst nach fünf Jahren, 1950, ist die Haft für die, die nicht in die "Mörtelgrube" sprangen, nicht erschossen wurden, nicht verhungerten, zu Ende. Dann kehren sie heim und werden niemandem erzählen können, was ihnen widerfahren ist. Selbst wenn sie es schaffen, die Scham zu überwinden, und über die Jahre der Demütigung und Qual berichten wollen, finden sie keinen, der ihnen zuhören möchte. Denn über die Vergangenheit ist in ganz Rumänien, das im Zweiten Weltkrieg an der Seite Nazideutschlands stand und sich jetzt der großen kommunistischen Brudermacht ergeben hat, das Schweigen verhängt.
Mutig und sprachschöpferisch
Im Winter 1945 wurden Abertausende Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in die Sowjetunion deportiert. Die Rote Armee requirierte sie als menschliches Material, das im Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Sowjetunion Verwendung finden sollte. In bestimmten Regionen waren es buchstäblich alle Frauen und Männer zwischen 17 und 45 Jahren, die verschleppt wurden und in Bergwerken, Kolchosen, Kombinaten als Zwangsarbeiter ums Überleben arbeiten mussten. Zahllose von ihnen sind verreckt und in namenlosen Gräbern verscharrt worden.
Doch ihr Schicksal blieb auch dann noch tabu, als sich das kommunistische Rumänien eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetunion errang. Denn wer an die Verbrechen, die an den Rumäniendeutschen nach 1945 von der Sowjetmacht verübt wurden, erinnern wollte, hätte auch daran erinnern müssen, dass Rumänien zuvor, im Zweiten Weltkrieg, ein faschistischer Staat gewesen ist. Und das passte nicht in das nationalkommunistische Projekt, das sich schon bald aller möglichen reaktionären Geister und Gespenster der Geschichte zu bemächtigen begann.
Herta Müller, die mit ihren rumäniendeutschen Landsleuten oft hart ins Gericht ging und nicht verhehlte, dass auch viele Sachsen und Schwaben unheilvoll in den Nationalsozialismus verstrickt waren, hat es nun auf sich genommen, denen eine Stimme zu geben, über deren Schicksal so lange und so gründlich geschwiegen wurde. Ihr neuer Roman erzählt von dem großen, kaum je benannten Unrecht, das den rumäniendeutschen Deportierten angetan wurde, von ihrer Entwürdigung im Lager, in der der einzelne seiner Individualität beraubt und zum Überlebens-Tier degradiert wurde, von dem Hunger, den sie alle litten und an dem viele starben. Es ist ein erschütternder Roman, das beste Buch, das Herta Müller, die schon für so viele Prosa- und Essaybände zu rühmen war, geschrieben hat, ein verstörendes Meisterwerk, mutig und sprachschöpferisch, ein Versuch, aus dem Inneren der Hölle zu sprechen, in einer ganz eigenen, bildstarken Sprache, die dort Worte finden muss, wo die herkömmlichen versagen, das Grauen nicht zu fassen vermögen.
64 kurze Abschnitte
Der Roman ist aus 64 kurzen Abschnitten gebaut, ein jeder von ihnen schreitet ein Revier des Lagers, eine Höllenstunde des Lageralltags, ein Gefühl, eine Verlorenheit, einen Schmerz der Inhaftierten aus. Herta Müller hat für die "Atemschaukel" mit den Deportierten ihres Dorfes gesprochen, vor allem aber hat sie sich von Oskar Pastior, der als Jugendlicher in die Sowjetunion verschleppt wurde, immer wieder vom Leben und Sterben im Lager erzählen lassen. So sollte ein gemeinsames Buch beider entstehen, doch nach dem überraschenden Tod des Dichters im Herbst 2006 musste Herta Müller mit ihren Notizen, Aufzeichnungen, Plänen alleine zurande kommen und ihr eigenes Buch verfassen, das zwar auch die Lagergeschichte von Oskar Pastior erzählt, aber dennoch nicht als Schlüsselroman gelesen werden sollte.
 
Ein kühnes Sprachkunstwerk
 
Die Deportierten, eine bunte, bald schon in das gleiche Grau des vorzeitigen Alterns, der Auszehrung und Apathie verkommene Gruppe, werden durch den Transport schockhaft jener Dehumanisierung ausgesetzt, die in den nächsten fünf Jahren schauerliche Folgen für sie haben wird. Die bürgerliche Dame, der Advokat, das schüchterne Mädchen, der homosexuelle Jugendliche - sie alle haben, wenn sie zwölf Tage lang ihre Notdurft im gemeinsamen Waggon verrichten mussten und stinkend, hungrig und durstig in der Nacht an einem unbekannten Ort ausgeladen und von schreienden Soldaten empfangen werden, einen Gutteil dessen, was für sie bürgerliche Sekurität und individuelles Selbstbewusstsein bedeutete, schon verloren. "Vielleicht wurde in dieser Nacht nicht ich, aber der Schrecken in mir plötzlich erwachsen", wird Leopold Auberg später über die Fahrt im Viehwaggon sagen.
Ausgemergelt von der Arbeit und dem Hunger, zusammengepfercht in Schlafbaracken, verlieren die Zwangsarbeiter in den nächsten Monaten nicht nur alle Attribute ihres Standes, sondern auch die der Geschlechter: "Denn in der Dreieinigkeit von Haut, Knochen und dystrophischem Wasser sind Männer und Frauen nicht zu unterscheiden und geschlechtlich stillgelegt . . . die Halbverhungerten sind nicht männlich oder weiblich, sondern objektiv neutral wie Objekte – wahrscheinlich sächlich."
Bestürzende Bilder
Auch der Ich-Erzähler vergisst im Lager, was ihm in Hermannstadt Sorgen bereitete und ihn sehnsüchtig machte, dass er sich nämlich wider siebenbürgischen Anstand und schwäbische Sitte dem eigenen Geschlecht zugeneigt fühlte. Der Trieb, der stattdessen alles beherrscht, der schlicht die ganze Existenz in Besitz nimmt, ist der Nahrungstrieb: „Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß."
Herta Müller findet bestürzende Bilder, die Allgegenwart des Hungers im Denken, Fühlen, im Tun und Träumen der Hungernden zu fassen: „Ich esse einen kurzen Schlaf, dann wache ich auf und esse den nächsten kurzen Schlaf." Im Traum sind all die Darbenden auf Hochzeiten und essen sich durch das vielgängige Menü, die ganze siebenbürgische Speisekarte kehrt nächtens wieder. Wer den jahrelangen Hunger überlebt, bleibt gleichwohl in seinem Bannkreis: „Ich bin eingesperrt in den Geschmack des Essens, wenn ich esse. Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern."
Im Lager Nowo-Gorlowka, irgendwo in der Steppe, herrscht eine penible bürokratische Ordnung, die periodisch durch reine Willkür verschärft wird. Über jeden Sack Zement, den die Häftlinge zu schleppen haben, muss abends genau abgerechnet werden, dabei gibt es für sie weder Anlass noch Gelegenheit, etwas vom Zement abzuzweigen. Aber die grammgenaue Abrechnung ist ein Mittel, permanenten Terror auszuüben und Zwietracht zwischen die Inhaftierten zu säen: "Höher als jede Wand wächst das Misstrauen." Samstag nachts ist es besonders gefährlich, da feiert die Wachmannschaft und trinkt Schnaps, aus Spaß an der Sache wird bald mal jemand erschossen. Furchtbar ist aber auch die Justiz, die die Häftlinge untereinander üben, wobei der Diebstahl von Brot das schlimmste Verbrechen ist und von ihnen grausam geahndet wird.
Herta Müller lässt aus dem Chor der Inhaftierten die eine und andere Gestalt hervortreten: den gewalttätigen, seine Gunst willkürlich verteilenden Kapo Prikulitsch und seine Geliebte Bea, den Rasierer Enyeter, den Brotdieb Karli, dem alle Zähne ausgeschlagen werden, damit er nie mehr hartes Brot essen kann, und über den alle Insassen urinieren; den Zither-Spieler David Lommer, einen Juden, der versehentlich auf die Liste gekommen ist, die schwachsinnige Kati, die all die Jahre nicht wissen wird, wo sie ist und was mit ihr geschieht, den Advokaten Gast, der seiner Frau die Suppe stahl und der doch unschuldig daran war, dass sie verhungerte, denn nicht er hatte ihre Suppe gestohlen, sondern "sein Hunger konnte nicht anders", als die Ehefrau um die überlebensnotwendigen Kalorien zu betrügen.
Kühnes Sprachkunstwerk
Trotz dieser scharf umrissenen Porträts zeigt Herta Müller jedoch einprägsam, dass in der Welt des Lagers die alte Vorstellung von einer Individualität, die es in einem Porträt voller unverwechselbarer Züge zu fassen gälte, zunichte wird. Das Individuum selbst wird zum Lagerwesen umgeformt, dem fast alles verloren geht, was jenes einst ausgemacht haben mag: "Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten."
Nach vier Jahren wird es besser, die Zwangsarbeiter erhalten Lohn, können sich im nahen „Russendorf" Nahrung und Kleidung kaufen. "Aus uns wurden wieder Männer und Frauen, als wäre es die zweite Pubertät." Nach fünf Jahren sind sie wieder daheim, sieht man von den 334 Toten ab, die "im Register der Krankenbaracke in Frieden ruhen". Leopold Auberg wird zuhause ein "Nichtrührer", er hält still und schweigt. Dieses Schweigen ist nun gebrochen worden, in einem kühnen Sprachkunstwerk, das seinesgleichen sucht in der europäischen Literatur unserer Zeit.
HERTA MÜLLER: Atemschaukel. Roman. Carl Hanser-Verlag, München 2009.

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