tirsdag den 5. april 2016

Geschriebene Porträts

Mr. Gwyn

von Alessandro Baricco, aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Vorgestellt von Katja Lückert.




Alessandro Baricco: "Mr Gwyn" © Hoffmann und Campe




Alessandro Baricco gibt Seminare für kreatives Schreiben.
Neben seinen Romanen hat Alessandro Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst. Sein Weltbestseller "Seide" wurde in 32 Sprachen übersetzt, zwei seiner Bücher verfilmt. 1994 hat er in Turin eine Schreibschule gegründet, an der man für 10.000 Euro jährlich Creative Writing studieren kann, die erste italienische Einrichtung dieser Art. Nun ist ein neuer Roman von ihm erschienen: "Mr. Gwyn". Aber ist Baricco auch selbst ein guter Schriftsteller?


Ein Schriftsteller, der nicht mehr schreiben will


Schriftsteller, die um den ersten Satz ringen, denen nichts mehr einfällt, die unbedingt schreiben wollen, aber es nicht vermögen - dieses Thema ist nicht selten Gegenstand von Romanen. Alessandro Baricco stellt es auf den Kopf und entwirft mit Jasper Gwyn die Figur eines erfolgreichen Schriftstellers, der einfach nicht mehr schreiben will.
Im Alter von dreiundvierzig Jahren schrieb Jasper Gwyn einen Artikel für den Guardian, in dem er zweiundfünfzig Dinge aufzählte, die er von dem Tag an nie mehr tun würde. Und das letzte war: Bücher schreiben. Leseprobe
Warum er mit dem Schreiben aufhören will, gehört zu den Geheimnissen, die Baricco nicht endgültig auflöst. Man kann nur mutmaßen, dass die Tatsache, ein berühmter Schriftsteller zu sein, zuweilen eine große Bürde darstellt und Baricco an Mr. Gwyn ein kleines Gedankenexperiment erprobt: Wie wäre es, einmal ein ganz anderer zu sein? Auf der Liste mit den 52 Dingen, die Jasper Gwyn in Zukunft nicht mehr tun möchte, steht übrigens auch - und das ist ziemlich witzig - "sich mit der Hand am Kinn in nachdenklicher Pose fotografieren lassen" und "Selbstsicherheit bei der Begegnung mit Schulklassen vortäuschen".


Intensive Beobachtungen


"Die Idee für das Buch hatte ich, als ich eines Tages durch ein Museum ging. Ich war ein wenig gelangweilt und müde und setzte mich auf eine kleine Bank. Von dort aus betrachtete ich die Besucher und die Bilder. In diesem Zwischenzustand der Müdigkeit kommen einem ja die besten Ideen und da ist die kleine Ideenzelle geboren, aus der Mr. Gwyn schließlich entstanden ist", erzählt der Autor.
Mr. Gwyn gibt das Schreiben nämlich nicht vollends auf, er nennt sich jetzt bloß "Kopist", er mietet ein Atelier an und beschließt Porträts anzufertigen. Besonders akribisch wacht er über die Einrichtung dieses Raums, in dem er in Zukunft Menschen zu empfangen gedenkt, die er porträtieren will. Er sucht gewissenhaft die Möbel aus, beauftragt einen Musiker mit der Komposition einer inspirierenden Hintergrundmusik und denkt sogar an die Beleuchtung.
"Eine Figur, die mir auch am Herzen liegt, ist ein alter Handwerker, ein brummiger Typ, der in einer Ecke von London einer seltsamen Beschäftigung nachgeht und Glühbirnen selbst herstellt. Das ist doch interessant, ich wollte über die Bedeutung des Lichts schreiben, dann kam mir jemand in den Sinn, der damit zu tun haben könnte", erklärt Baricco. Alte und junge, Männer und Frauen, Jasper Gwyn betrachtet seine Modelle schweigend über viele Wochen hinweg, jeden Tag ein paar Stunden, sie müssen nichts tun, nur schweigen und vor allem nackt sein.


Zwischen Fiktion und Wirklichkeit


Mr. Gwyn schreibt also doch wieder, er veröffentlicht bloß keine Bücher, denn jedes Porträt ist ein Unikat, in dem sich der Porträtierte gänzlich wieder erkennen soll. Und er hat damit Erfolg - bis er eines Tages verschwindet. Rebecca, Modell und Assistentin, versucht ihm auf die Schliche zu kommen, offenbar veröffentlicht er unter verschiedenen Pseudonymen.
Die letzten 75 Seiten des Buchs identifizieren Baricco vollends als Lehrer für kreatives Schreiben: Er hat offenbar großen Spaß an der Verschränkung von Fiktion und Wirklichkeit. Unter dem Titel: "Dreimal im Morgengrauen" erzählt er drei Geschichten, in denen es jeweils um eine Frau in einem Hotel geht. Er gibt das Büchlein als Werk eines indischen Autors aus. In Italien ist es getrennt vom Roman "Mr. Gwyn" erschienen. Sollte es der Leser genauso erst in einer Buchhandlung suchen, wie es im Roman Rebecca in London tut?
Ganz offensichtlich interessiert sich Alessandro Baricco für die Wirkmächtigkeit von Literatur. Das Ergebnis ist eine Mischung aus gut erzählt - und etwas überkonstruiert.

Alessandro Baricco: "Mr Gwyn" © Hoffmann und Campe

Mr. Gwyn


von

320 Seiten
Hoffmann und Campe
Bestellnummer:
978-3-455-40561-3




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