søndag den 20. juni 2010

ny Christa Wolf,


Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
Mein Schutzengel nimmt es mit jedem Raumschiff auf
Gerichtet? Gerettet! Christa Wolf erinnert sich in ihrem autobiographischen Buch an eine tiefe Krise ihres Lebens, aber entdeckt am Rande der westlichen Welt überraschend eine Hoffnung auf Erlösung.
Von Richard Kämmerlings

Wenige Seiten zuvor erinnert sich Christa Wolf an den 4. November 1989, an die Veranstaltung auf dem Alexanderplatz, an ihre Rede, an einen Moment, in dem für sie blitzartig die Utopie eines wahren Sozialismus zu greifen nah war. Der historische Augenblick, in dem die Geschichte märchenhaft, glücklich ausgeht: „Ihn miterlebt zu haben, dachtest du, dafür hatte alles sich gelohnt.“ Nun, knapp drei Jahre später, hat Christa Wolf eine doppelte Kränkung erlebt. Die Bevölkerung der DDR hatte mehrheitlich ganz andere Sehnsüchte, als jene, den wahren Sozialismus endlich verwirklichen zu dürfen. Und Christa Wolf selbst wurde, als Autorin und als Intellektuelle, Gegenstand des sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreits. Mit dem Ende des Staats, an den sie bei aller inneren Distanz bis zuletzt festgehalten hatte, verlor sie auch die stets als selbstverständlich hingenommene Rolle als repräsentative Figur – die sie freilich für viele ihrer ostdeutschen Leser bis heute blieb, gerade wegen dieses von nur allzu leicht nachvollziehbaren Erfahrung eines Statusverlusts im wiedervereinigten Deutschland.
Im Hotel „Ms. Victoria“
1992 nun sitzt Christa Wolf in einem schrulligen Hotel mit dem zufällig passenden oder gut ausgedachten Namen „Ms. Victoria“, macht sich ziemlich ess- und trinkfreudig mit der Konsumkultur des siegreichen Kapitalismus vertraut, schließt Freundschaften mit ihren Ko-Stipendiaten sowie einer Reihe deutsch-jüdischer Emigranten und beschäftigt sich auf Einladung der Getty Stiftung mit einem neuen erzählerischen Projekt: Ihre verstorbene Freundin Emma hatte ihr ein Konvolut von Briefen einer gewissen L. vermacht, einer in den dreißiger Jahren nach Kalifornien emigrierten Psychoanalytikerin. Christa Wolf begibt sich auf eine biographische Spurensuche, die an die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen erinnert: Nicht einmal den vollen Namen jener L. kennt sie.
Wie in ihren kanonischen Werken wie „Nachdenken über Christa T.“ oder „Kindheitsmuster“ entzieht sich auch dieses Buch eindeutigen Kategorisierungen. Dass der Verlag es auf der Buchrückseite (und nur da) „Roman“ nennt, ist wohl eine Panne. Christa Wolf mischt Reisebericht, Tagebuch, Erinnerungspassagen, Traumerzählungen und auch eindeutig fiktive Passagen. Auch die Rätselgeschichte der L. rundet sich nicht wirklich, die Gestalt bleibt seltsam unkonturiert (obwohl es eine überraschende Lösung gibt).
Kritik am Kapitalismus
Für den Leser ist das zunächst ziemlich mühsam, zumal man sich neben manchen sehr banalen Alltagsbeobachtungen (die übertriebenen Freundlichkeit der Amerikaner, ihre merkwürdigen Frühstücksgewohnheiten etc.) und der erwartbaren (aber deswegen nicht falschen) Kritik an sozialen Missständen und am exzessiven Konsumfetischismus des Westens auch durch wirklich Ärgerliches beißen muss: Wenn etwa die jungen Amerikaner am Getty-Center erklären, sie müssten das Land verlassen, falls Clinton nicht die Wahl gewinne, die Atmosphäre sei „denunziatorisch“ und man wisse selbst in den Universitäten nicht mehr, mit wem man noch offen sprechen könne: „Davon höre man im Ausland wohl wenig? – In der Tat, sagte ich.“ Es ist schon ein starkes Stück, so eine Parallele zu totalitären Verhältnissen zu suggerieren. So gibt es einige Stellen, bei denen man nicht mehr viel Kredit gewähren will. Und doch, man sollte es tun.
Denn so nach etwa hundert, hundertfünfzig Seiten nimmt diese Prosa langsam Fahrt auf, werden die motivischen Verknüpfungen dichter, der Ton dringlicher und direkter. Die Erzählerin wird nach und nach per Fax über die heftigen und größtenteils vernichtenden Reaktionen auf das Bekanntwerden ihrer „Täterakte“ informiert, die sie bereits vorher eingesehen hatte. Als „IM Margarete“ war sie von 1959 bis 1962 bei der Staatssicherheit geführt worden. Obwohl sie sich angesichts der (verglichen mit dem Umfang ihrer „Opferakte“) kaum ins Gewicht fallenden Fakten einer fortgesetzten Medienkampagne ausgesetzt sieht, stürzt sie fern von Deutschland, „am Rand der Welt“ in eine tiefe Krise, die immer tiefer um eine Frage kreist: „Wie hatte ich das vergessen können? Ich wusste ja, dass man mir das nicht glauben konnte, man warf es mir sogar als mein eigentliches Vergehen vor – Vergehen, was für ein schönes deutsches Wort.“
Dauermonolog im Kopf
Dieser für die Erzählerin selbst rätselhafte Lapsus der Erinnerung ist der heiße, magmaförmige Kern des Buchs. Immer wieder ist von der gastgebenden Institution, unter anderen ja einem großen Archiv, als dem „CENTER“ (in Versalien) die Rede, und unaufhörlich wird das Tun und Treiben der Gegenwart von der Arbeit an der Vergangenheit überlagert, ein Film im Kopf, ein Monolog in Endlosschleife. Christa Wolf ruft sich die Aufbaujahre, ihre Jugend als überzeugte, ja fanatisierte Genossin ins Gedächtnis, eine illegale Tätigkeit als Agitatorin in West-Berlin, die Begegnung mit großen Vorbildern wie Louis Fürnberg, aber auch spätere Zäsuren, allen voran die Tage nach der Biermann-Ausbürgerung, als sie trotz des gewaltigen Drucks an ihrer Unterschrift unter den Protestbrief festhielt.
Der titelgebende Mantel Sigmund Freuds wird zum paradoxen Bild dieser bohrenden Selbstbefragung: Sein Schutz ist nur zu haben um den Preis völliger Entäußerung. Die Krise kulminiert in einer ekstatischen Nacht, in der Christa Wolf nach ein paar Whisky das Klingeln des Telefons ignoriert („Berlin“ steht hier stets für familiäre Bindungen), Freuds Mantel zu sich sprechen hört und dann – singt: „alle Lieder, die ich kannte, und ich kenne viele Lieder mit vielen Strophen“. Die nun folgende Aufzählung aller Volks-, Kinder-, Kampf- und Kirchenlieder ist der Höhepunkt des Buchs, eine Krisis als Wendepunkt und zugleich die im Unterbewussten abgelegte Summe eines ganzen Lebens.
Psychoanalytische Ästhetik
„Stadt der Engel“ folgt, und so kann man es leicht unterschätzen, einer psychoanalytischen Ästhetik: Gerade das Beiläufige, der Witz, der Versprecher, der Traum legen die verschüttete Wahrheit frei. Das Buch enthält auch eine nie ausgesprochene Liebesgeschichte. Der verkrachte Kollege Peter Gutman, der selbst unglücklich in eine Dritte verliebt zu sein behauptet, wird für die Erzählerin zu einem Seelenverwandten, dessen eigenes Scheitern – er verzweifelt über der Biographie eines Philosophen – die Selbstzweifel Christa Wolfs spiegelt und zugleich ins Existentielle aufhebt. Nebenbei ist dieses Umeinanderkreisen und intellektuelle Turteln auch ein leichtfüßiger Ausgleich für die Schwermut und drohende Resignation.
Gutman ist es auch, der das entscheidende Stichwort liefert, den Verweis auf Walter Benjamins Engel der Geschichte, der unaufhaltsam vorwärtsgetrieben wird, auf die Katastrophen der Menschheit zurückblicken muss und nichts heilen kann. (Ein anderes Benjamin-Zitat ist dem Buch als Motto vorangestellt.)
Einbruch des Phantastischen
Doch tritt neben diesen Geschichtspessimismus eine christliche Erlösungshoffnung. Bei einem touristischen Besuch in der „First African Methodist Episcopal Church“ wird die Erzählerin mitgerissen und empfängt sogar die Kommunion. In der Predigt geht es um das Wunder der Sündenvergebung. Nach diesem Ereignis begleitet sie eine Schwarze namens Angelina, ein „Schutzengel“ auf Schritt und Tritt, es gibt sogar eine gemeinsame Flugstunde, als wäre das Raumschiff Enterprise plötzlich in Malibu am Start.
Dieser Umschlag ins Phantastische kommt überraschend, doch so eben so plötzlich müsste auch nach Benjamin der Eintritt des Erlösers in die Geschichte sein. Ein merkwürdiges, ein bemerkenswertes Buch, eine Rettung.
Christa Wolf: "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud". Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 416 S., geb. kr. 219,- inkl. moms



Buchtitel: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
Buchautor: Christa Wolf

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