Besprechung von 12.03.2016
Dann bauen wir eine Mauer
Landflucht, Generationenkonflikt, DDR-Vergangenheit: Juli Zeh packt in ihrem multiperspektivischen Dorfroman "Unterleuten" die ganz großen Themen an. Kann das gutgehen?
Von Sandra Kegel
Eigentlich ist es eine bestechende Idee, einen Gesellschaftsroman in der brandenburgischen Tiefebene siebzig Kilometer nordwestlich von Berlin anzusiedeln. Schon vor Jahren hat der Kabarettist und Spezialist für regionale Befindlichkeiten, Rainald Grebe, in seiner Ode an "Brandenburg" den Dada-Soundtrack dazu vorgelegt. Und erst jüngst ließ nicht nur das Polarlicht das märkische Land leuchten, sondern auch die Literatur von Sasa Stanisic oder Roland Schimmelpfennig.
Nun hat sich auch Juli Zeh darangemacht, das märkische Land in epischer Breite zu vermessen. Unter knorrigen Birnbäumen und in alten Dorfschenken versammelt sie die gegensätzlichsten Typen: Alteingesessene und Neubewohner, jene, die Zuflucht vor der Großstadt suchen, und solche, die am Ort ihrer Jugend gestrandet oder dem Ostprignitzer Sand erst gar nicht entkommen sind. Doch nicht nur mit dem Zuzug ehrgeiziger Pferdefrauen und professoraler Vogelwarte aus der Hauptstadt stirbt das alte Dorf jeden Tag ein bisschen mehr.
Der idyllische Fleck mit dem sprechenden Namen, der vor allem für diejenigen wie Heimat aussieht, die nicht von hier stammen, befindet sich seit Jahren in stummer Feindschaft. Befeuert vom Lauf der Geschichte - von den Bomben des Zweiten Weltkriegs über den Bau der Mauer bis zum anschließenden Fall derselben -, gibt es offene Rechnungen zuhauf unter den Leuten. Brüder haben sich als Neider entpuppt, Freunde als Verräter, Ehefrauen als Stasispitzel. Doch erst, als der Bürgermeister plant, die Gemeinde mit Windrädern vor der Pleite zu retten, brechen die Konflikte aufs Neue auf. Und spätestens, als sich die Dorfgesellschaft im überfüllten Tanzsaal des "Landmanns" zur Gemeinderatssitzung trifft und der Streit über den geplanten Windpark in eine Prügelei ausartet, herrscht Krieg in Unterleuten.
Weil schon die Frage, auf welchem Stück Land die Ungetüme dereinst rotieren werden, ganz neue Sieger und Verlierer hervorbringt. Die Besitzer des einst nutzlosen Grunds stehen plötzlich als Profiteure da, während den anderen nur die unschöne Aussicht auf die von der EU subventionierten Gelddruckmaschinen bleibt. Aber noch ist kein Grundstück gewählt, und weil in diesem wildgewordenen Dorf bald alle Waffen erlaubt sind, werden nicht nur Kinder und Katzen entführt, sondern gibt es am Ende einige Tote zu beklagen.
Die 1974 geborene Juristin Juli Zeh, die sich mit Romanen wie "Adler und Engel", "Schilf" und "Nullzeit" ebenso wie mit Essays zu Fragen von Recht, Moral sowie dem Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit einen Namen gemacht hat, packt in diesem Buch die ganz großen Themen an: Landflucht und DDR-Vergangenheit, Generationen- und Geschlechterkonflikte, Energie- und Ehekrisen, Kapitalismuskritik, Immobilienspekulation, Überwachungsstaat, Zersiedelung - das alles und noch viel mehr bündelt sie in ihrem auf mehr als sechshundert Seiten angelegten Gesellschaftspanorama. Interessanterweise lässt der Roman die Generation Hoyerswerda, die auch dort ihre Brandspuren hinterlässt und uns gerade in diesen Tagen beschäftigt, völlig außen vor.
Doch so effektiv es für die kompositorische Anlage auf den ersten Blick ist, den ländlichen Mikrokosmos als Spiegelfläche für zeitdiagnostische Thesen zu wählen, verweht der Plot bald wie märkischer Sand. Auf der Strecke bleibt die literarische Finesse. Nicht etwa, weil Juli Zeh diesen heißen Sommer abwechselnd aus der personalen Perspektive von zwölf verschiedenen Protagonisten schildert. Ulrike Draesner hat mit ihrem multiperspektivischen Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" den Reiz dieser Erzählform zuletzt ebenso vorgeführt wie etwa Eva Menasse in "Quasikristalle".
Doch Juli Zeh ufert in der Handlungsfülle aus und geht erzählerisch so sehr in die Breite, dass es ihr bei der Figurenzeichnung schlicht an Tiefe mangelt. Die Zuzügler aus der Stadt wie die Bauern-Patriarchen aus Unterleuten, die hier ein ums andere Mal aufeinandertreffen, umeinander kreisen oder sich verpassen, sie müssen vor allem eines leisten: einen bestimmten Standpunkt, eine bestimmte Haltung transportieren. Da ist der enttäuschte Unidozent, der zum Wutbürger mutiert, die misshandelte Ehefrau, die irgendwann ihre Koffer packt, der hochsensible Schriftsteller, der seine Schreibhemmung mit Rasenmähen zu kurieren versucht. Zusammengenommen sollen sie den vielstimmigen Sound unserer Zeit abbilden. Jede Figur für sich aber bleibt den Aufträgen ihrer Schöpferin verhaftet und also berechenbar. Das ist schade, gerade weil der Roman immer wieder auch mit kuriosen Einfällen und unerwarteten Wendungen aufwartet. Das Unternehmen als Ganzes aber hat etwas Konstruiertes und Angestrengtes, das auf Kosten der Leichtigkeit geht.
Einer der Granden im Dorf ist der Wendegewinnler Gombrowski. Dem Spross ehemaliger Großgrundbesitzer war es mit einiger krimineller Energie gelungen, die Besitztümer seiner Ahnen, zu DDR-Zeiten enteignet, nach dem Fall der Mauer wieder an sich zu reißen. Doch um seinen nun "Ökologica" getauften Betrieb steht es längst nicht mehr gut, weshalb der Alte noch einmal alle Kräfte mobilisiert, um das Rennen um die Windräder für sich zu entscheiden. Auch sein Widersacher, der Altkommunist Kron, spekuliert auf die Anlage, vor allem aber deshalb, weil er mit Hilfe des neuen Rückenwinds seinen ewigen Gegenspieler Gombrowski, der alle Geschicke im Dorf lenkt, endlich zu Fall bringen will.
Was die beiden verbindet, ist zugleich das dunkle Geheimnis von Unterleuten. Denn ein Dritter kam in jenen schicksalhaften Tagen nach der Wende unter einer alten Buche ums Leben, als Gombrowski Verbündete für seine "Ökologica" brauchte und jene Dörfler mit Alternativplänen mit allen Mitteln mundtot machen wollte. Das ging so weit, dass seither im Dorf gemunkelt wird, Gombrowski, der auch seine Frau bisweilen windelweich schlägt, schrecke vor Mord nicht zurück.
Ermittelt aber wurde nie. Die Unterleuter hatten die DDR überlebt und wussten, "wie man sich den Staat vom Leibe hielt", heißt es an einer Stelle im Roman. Sie lösen, soll das heißen, ihre Probleme auch heute auf ihre Weise, nämlich unter sich. Dass diese Erkenntnis vor allem den Neu-Unterleutern verborgen bleibt, trägt nicht unerheblich zu deren Problemen bei. Denn wer auch immer sich aus Berlin, Oldenburg oder Ingolstadt dorthin verirrt, stößt auf gelebte Anarchie. Vergessen von der Welt und also unfreiwillig subversiv, dämmert es dem Soziologen Gerhard Fließ irgendwann, sei das Dorf nichts anderes als ein "gesellschaftspraktisches Paralleluniversum".
Dieser Fließ, der einst über die "Topographie des Aufstands" habilitierte und sich mit Transparenz-Workshops und Gesellschaftsdiagnose-Seminaren an der Humboldt-Universität über Wasser hielt, ehe er im brandenburgischen Paralleluniversum seine Berufung als "Held der Bewahrung" fand, ist wie aus dem Setzbaukasten entworfen. Als Vogelwart und Jungvater hat er zusammen mit seiner ehemaligen Studentin Jule einen ehemaligen Hof in ein warmes Nest umgebaut. Um dann festzustellen, dass ihm nicht nur die Hitze zu schaffen macht, sondern mehr noch die vom Nachbargrundstück herüberwehenden Giftgase. Dort pumpt ein irre gewordener Autoschrauber so viel Dreck in die Luft, dass Gerhard und Jule sich bald mit Mordgedanken tragen und ihr Paradies ausgerechnet mit einem Mauerbau vor dem höllischen Gestank schützen wollen.
Es sind Wendungen dieser Art, so überdeutlich markiert, die gerade bei einer begabten Autorin wie Juli Zeh frustrieren. Jede Kraftanstrengung ist "gewaltig", jedes Lächeln "breit" und Gesichter "frisch renoviert". Der sprachliche Aufwand, die schiefen Bilder, die vielen missglückten Sätze und die klischeehaften Bausteine machen da bisweilen nicht weniger heiße Luft als die Windräder, die im Plot die Atmosphäre im Dorf aufheizen.
Dass Juli Zeh einer ihrer Heldinnen den Namen des amerikanischen Gesellschaftsromanciers Jonathan Franzen verpasst hat, ist bezeichnend für eine Prosa, die sich mit Andeutungen nicht begnügen mag. Deshalb muss die ratgeberhörige Linda Franzen, die als Pferdeflüsterin reüssiert und für ihren Zuchthengst Bergamotte in Unterleuten das entsprechende Ambiente sucht, als Stellervertreterin aller Selbstoptimierer dieser Welt herhalten. Natürlich ist der Freund der Pferdefrau ein blasser Programmierer, dem jede animalische Erotik abgeht, während sie sich als "Moverin" versteht und Eigenkontrolle als Währung ihres Erfolgs ansieht. Im Eigenheim sieht sie ein Mittel, das "beängstigende Möglichkeitslabyrinth der Zukunft in überschaubares Terrain" zu verwandeln: "Inzwischen glaubte Linda, dass das menschliche Schicksal nicht an Gott, sondern am Grundbesitz hing. Transzendentale Obdachlosigkeit war keine Folge des Religionsverlustes, sondern der Inflation von Mietwohnungen." Ja, so denken sie, die Romanfiguren.
In Interviews hat Juli Zeh, die heute selbst in Brandenburg lebt, immer wieder betont, wie gern sie auf dem Land wohne, das sie an ihre Studentenzeit in Wohngemeinschaften erinnere - man teile Alltag und Lebensraum, "ohne eng befreundet sein zu müssen". Vielleicht wurzelt hier das Problem: dass der Roman in Wahrheit selbst gegen Windmühlen kämpft. Das fiktive Dorf - das sich verhielt "wie ein Kind, das von Hautausschlag befallen war. Die Klatschsucht war ein Juckreiz, und das Dorf kratzte sich" - bleibt am Ende ausgedacht. Das Welttheater auf der Dorfbühne findet nicht statt, und was immer tatsächlich dort aufzuspüren wäre, bleibt unentdeckt. Denn wie heißt es im Song von Rainald Grebe? "Es gibt Länder, wo was los ist, / Es gibt Länder, wo richtig was los ist / und es gibt / Brandenburg." Aufregend ist es auch dort, natürlich. Man muss sich nur darauf einlassen.
Juli Zeh: "Unterleuten". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 640 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Mai
Ingen kommentarer:
Send en kommentar