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Suleman Taufiq
Neue arabische Lyrik
M.
Ghalayini
ISBN: 3000133534 |
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Die Lyrik besitzt traditionell große Bedeutung in der arabischen Welt.
Noch heute genießt sie von allen literarischen Formen das höchste Ansehen.
Die arabischen Lyriker nehmen mit ihren Versen starken Einfluss auf die
Meinungsbildung, dazu trägt wohl auch die mündliche Tradition der Lyrik bei,
die nach wie vor eine große Rolle spielt: Der lyrische Vortrag der Dichter
findet oft vor einem großen Publikum statt (auch in gutgefüllten
Fußballstadien!), genauso sind Gedichtvorträge beliebter Bestandteil von Familienfesten,
im Radio und Fernsehen. Kassetten mit den Vorträgen zeitgenössischer Dichter
sind ebenso populär wie Musikkassetten. Die in den fünfziger Jahren des 20.
Jahrhunderts gegründete Lyrik-Zeitschrift ›Schiir‹ löste eine literarische
Revolution aus, die größere Wirkung hatte als viele politische Bewegungen
dieser Zeit.
In der vorliegenden Anthologie sind 47 der bedeutendsten arabischen Dichterinnen und Dichter der Gegenwart versammelt. Sie kommen aus Ägypten, Algerien, den Arabischen Emiraten, Irak, Jemen, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Oman, Palästina, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Tunesien.
Meine Meinung: Jede, der sich für arabische Lyrik interessiert bekommt
mit diesem kleinen Buche einen wunderbaren Überblick
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Verdens litteratur, men særligt litteratur på tysk er en samling anmeldelser af forskellige tysksprogede bøger, som jeg finder spændende og gerne vil dele med andre. Anmeldelserne er hentet fra store tyske avisers litteraturtillæg.
torsdag den 31. marts 2016
Neue arabische Lyrik
Arabische Literatur, postmodern
Angelika Neuwirth, Andreas Pflitsch, Barbara Winckler Arabische Literatur, postmodern Edition Text und Kritik Erscheinungsdatum: September 2004 ISBN: 3883777668 | ||
Das Buch »Arabische Literatur, postmodern« stellt die zeitgenössische Literatur der arabischen Welt vor. Dabei ist den Herausgebern vor allem daran gelegen, diese Literatur aus ihrem europäisch-westlichen Rezeptionskontext herauszuholen, der sich vor allem an einer behaupteten Exotik orientiert. Das pittoreske Element, bei dem Armut und Rückständigkeit beim westlichen Leser Mitgefühl und Sehnsucht nach vergangenen Zeiten und deren vorgeblichen Einfachheit wecken sollen, bestimmen Auswahl und Ausstattung der auf dem europäischen Buchmarkt präsenten arabischen Werke. Diese Exotisierung der modernen arabischen Literatur wird deren Vielfalt und Qualität nicht gerecht und verhindert zudem einen kulturellen Austausch: Wenn die literarische Auseinandersetzung der arabischen Kultur mit der Moderne nicht wahrgenommen wird und wenn die vielstimmigen Reaktionen auf die Prozesse der Globalisierung nicht vernehmbar gemacht werden, bleibt der immer wieder geforderte Dialog unausgeglichen und damit chancenlos. Das Buch »Arabische Literatur, postmodern« stellt eine außereuropäische Literatur vor, die auf Augenhöhe mit anderen Weltliteraturen unsere Gegenwart reflektiert und sich mit ihrer Brüchigkeit und Vielfalt, mit ihren Risiken und Wirkungen auseinander setzt, ohne dabei ihre eigenen Traditionen zu verleugnen oder zu vergessen. Das Buch deckt die modernen arabische Literatur / Schriftsteller sehr gut ab und ist ein (der) Einstieg in die arabische Literatur der Jetztzeit. Die entsprechenden Literaturhinweise am Ende der einzelnen Essays helfen bei der Auswahl von Lektüre. Empfehlenswert !!! |
Orhan Pamuk
Besprechung von 30.01.2016
Kleiner Drink, große Stadt
Als das alte Istanbul verschwand: Orhan Pamuks
neuer Roman
„Diese Fremdheit in mir“
VON CHRISTOPH BARTMANN
Als Orhan Pamuk 2006 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ehrte ihn die Jury als einen Autor, „der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Geburtsstadt neue Symbole für den Zusammenprall und die Verflechtung der Kulturen“ gefunden habe. Ausgezeichnet wurde ein Schriftsteller, der souverän über die Mittel des zeitgenössischen westlichen Romans verfügt und in seinen besten Büchern („Schnee“, „Rot ist mein Name“, „Das schwarze Buch“) an Kafka oder Nabokov anschließt. Erst die Verbindung von beidem, von Istanbuler Melancholie und literarischer Kühnheit, hat Pamuks Rang begründet, jedenfalls in der westlichen Welt. Dass man in zwei Kulturen bewandert und dabei zugleich „absolut modern“ sein konnte, war eine Vorstellung, die nicht nur die Schwedische Akademie bezauberte.
Diese Vorgeschichte muss man in Erinnerung rufen, wenn man Pamuks neuen Roman „Diese Fremdheit in mir“ zur Hand nimmt. Etwas hat sich verändert in Pamuks Schreiben seit dem Nobelpreis vor zehn Jahren. Mehr denn je ist jetzt die Klage um die Verwandlung und Zerstörung des alten Istanbul ins Zentrum gerückt. Stärker als früher auch scheint Pamuks Hang zum Melodram zu sein. In Pamuks Roman „Das Museum der Unschuld“ trat noch eine dritte Tendenz hinzu. Die Dinge der Vergangenheit sollen vor dem Vergessen bewahrt, sie sollen aufbewahrt und gezeigt werden, nicht mehr nur im Roman, sondern im Museum. So baute sich Pamuk eine private Institution für seine eigenen Memorabilien, als wolle er den eigenen Landsleuten eine Lektion in Melancholie erteilen. Seine Bücher sollen und wollen nun, so scheint es, vor allem im eigenen Land verstanden werden und Wirkung erzielen.
Auf den ersten Blick wirkt der neue Roman freilich wie eines jener komplexen fiktionalen Bauwerke, wie sie Pamuk berühmt machten. Ein ganzes Ensemble von Erzählstimmen trägt eine Handlung vor, die der barocke Untertitel sogleich in ihrer Absicht erläutert: „Abenteuer und Träume von Mevlut Karatas, einem Boza-Verkäufer, und seiner Freunde, zugleich ein Porträt des Lebens in Istanbul von 1969 bis 2012 aus vielen verschiedenen Perspektiven“. „A Strangeness in My Mind“, heißt die Gedichtzeile von Wordsworth, die dem Roman den Titel gibt.
Man tut sich schwer, bei Mevlut, dem Protagonisten, tatsächlich Spuren dieser Fremdheit zu entdecken. Und wenn, dann ist es nur eine sehr leichte Fremdheit, so wie Boza, das Mevlut über vier Jahrzehnte mit seinem Lastjoch durch Istanbul trägt, ein sehr leichtes alkoholisches Getränk ist. Boza, gemacht aus fermentiertem Weizen, war, wie man lernt, ein beliebtes Getränk zu Zeiten des Sultanats, als Alkohol verpönt, aber ein kleiner Drink trotzdem willkommen war. Zur Zeit des Romans will in Istanbul kaum einer mehr Boza trinken, weshalb Mevlut sein Angebot auf Joghurt, Eis, Hähnchen mit Pilav und manch anderes ausdehnt. Boza, der Alkohol, der je nach Betrachtungsweise gar keiner ist, der die Gläubigen so froh stimmt wie die Ungläubigen, der so leicht ist, dass er niemandem schadet – Boza ist hier ein Symbol für gelebte Toleranz und friedvolles Miteinander, und sei es auch um den Preis eines ordentlichen Alkoholgehalts. Boza, so könnte man auch sagen, ist die Super-Metapher für diesen Roman selbst.
Pamuk lässt ihn mit einem melodramatischen Auftakt par excellence beginnen. „Von der Schwierigkeit, ein Mädchen zu entführen“ heißt das erste Kapitel: Auf einer Hochzeit hat sich „unser Held“ in eine glutäugige Schönheit aus dem Nachbardorf verliebt, der er fortan schmachtende Briefe schreibt, die natürlich unbeantwortet bleiben. Eines Nachts verschleppt er sie, mit tatkräftiger Hilfe seines Neffen, nach Istanbul, um noch vor Ankunft festzustellen, dass er versehentlich statt der schönen Samiha deren ältere Schwester Rayiha entführt hat. Macht nichts, sagt sich Mevlut, und auch die überrumpelte Rayiha findet sich schnell mit ihrem Schicksal ab.
Mevlut, der Mann mit dem Lastjoch, ist ein gutmütiger Held, den so schnell nichts aus der Bahn wirft. Zum ersten Mal hat Pamuk einen Roman vollständig aus der Perspektive eines sogenannten einfachen Mannes geschrieben. Auch wenn Mevluts Abenteuer und Träume von verschiedenen Figuren erzählt und kommentiert werden, geht die Erzählung kaum je über seinen Gesichtskreis und seine Vorstellungswelt hinaus. Das führt, bei aller Buntheit der geschilderten Umstände, zu einer gewissen Eintönigkeit. Gemildert wird sie durch vielerlei Wissenswertes über Stadt, Land und Welt zwischen 1969 und 2012. Der groß angelegte Stadthistorienroman verlangt nach solchen Hinweisen und Kontexten, nur bleiben sie als allgemeine Sachverhalte den Figuren fremd.
Pamuk will erkennbar dem Leser mehr mitteilen, als es die Lebenswelt seiner Figuren glaubhaft vermitteln kann. „Eine Fremdheit in mir“ – man meint bisweilen zu spüren, dass Pamuk mit seinen eigenen Figuren fremdelt. Alles soll so lebensnah wirken und könnte es vielleicht auch sein, wenn Pamuk seine Figuren wirklich von der Leine ließe. Das Problem ist nicht, dass Mevlut ein Simplex oder ein Schelm ist und deswegen die großen Zusammenhänge nicht durchschaut. Das Problem ist vielmehr, dass er so schrecklich gutmütig ist oder sein muss, eine Eigenschaft, die selten große Literatur nach sich zieht.
Vielleicht steht diese allzu offensichtliche Gutmütigkeit eines Helden, der ein bisschen religiös und ein bisschen säkular ist, der den überall lauernden Gefahren und Konflikten nach Kräften aus dem Weg geht, mit Pamuks pädagogischen Neigungen in Zusammenhang. Dies ist ein erstaunlich mildes, heiteres Buch geworden, erstaunlich deshalb, weil Pamuk auch anders kann und weil er auf 600 Seiten die Ursachen und Urheber der Zerstörung des alten Istanbul deutlich genug beim Namen nennt. Ist es vielleicht nicht nur vorsichtiger, sondern auch klüger und wirkungsvoller, wenn er sein Lebensthema diesmal auf eine Weise instrumentiert, die weder in ihrer Form noch in ihrer Botschaft mögliche Leser vor den Kopf stößt?
In diesem Roman jedenfalls präsentiert sich Pamuk als Aufklärer, der sein „J’accuse“ in menschenfreundlicher Form unter die Leute bringt. Wer verstehen will, warum Istanbul heute nicht mehr die tolerante, multikulturelle, kosmopolitische Stadt ist, an die Pamuk sein Herz verloren hat, findet in diesem Roman Erklärungen genug. Lange Passagen, und vielleicht die besten, sind einem Thema gewidmet, mit dem sich Pamuk, der gelernte Architekt, auskennt wie ein Profi: dem illegalen Bauen. „Gecekondu“ heißen solche provisorischen Bauten, Wohnkomplexe und -viertel, die jetzt die Hügel rings um die Stadt überziehen. Gebaut haben sie Leute wie Hadschi Hamit Vural.
Vielleicht ist er der heimliche Held des Romans, weder ein Schelm noch ein Schurke, aber einer, der in Mevluts Straßenhändlerwelt die Fäden zieht. Wie Mevlut und all die anderen ist er aus Anatolien nach Istanbul gekommen, aber anders als Mevlut hat er bald eine Moschee gestiftet und sich dann als Bauunternehmer etabliert. Hadschi Hamit Vural ist kein Fundamentalist oder Islamist, beides Wörter, die in Mevluts Welt kaum eine Rolle spielen, er ist ein Anführer der „Frommen“, der „Religiösen“, der sich mit Jobs, Wohnungen und anderen guten Werken die Gefolgschaft der Zuwanderer vom Lande verschafft.
Illegales Bauen und religiöses Eiferertum sind zwei Seiten derselben Medaille, verkörpert in Figuren wie Hadschi Hamit Vural, der sich ins Istanbuler Establishment vorarbeitet, ohne je ein Bürger sein zu wollen. Bei der Schilderung all dieser Machenschaften ist Pamuk spürbar in seinem Element, genauso wie in den Kapiteln, die Mevlut, nachdem er alle möglichen Jobs durchlaufen hat, als Stromableser zeigen. Was gibt es nicht alles an Möglichkeiten, den Stromableser zu täuschen? Und welche Einsichten ins Innerste der Stadt gewährt das Stromablesen dem wachsamen Ableser. In Mevluts ambulanten Tätigkeiten, dem Boza-Verkäufer oder dem Stromableser, hat Pamuk sich selbst, dem ambulanten Schriftsteller, ein Denkmal gesetzt.
Wie in Baudelaires Gedicht „Der Schwan“ wird dem Wanderer alles, was er sieht, zur Allegorie, aber die Melancholie raubt ihm nichts von seiner Wachsamkeit. „Diese Fremdheit in mir“ ist ein Buch geworden, das es seinen Lesern vordergründig zu leicht macht. Sein tatsächlicher Gehalt erschließt sich erst, wenn man die Handlung Handlung sein lässt und, wie der Stromableser, ein bisschen hinter die Fassaden schaut.
Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2016. 592 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Der heimliche Held ist der
Bauunternehmer – er tritt auf
als Architekt der Zerstörung
„,Die Liebe ist eine Krankheit‘, dozierte der Hodscha. ,Und als Notfallmedizin hilft dagegen,
da hast du schon recht, die Ehe‘“: Zu Beginn des Romans entführt Pamuks Held gleich mal ein Mädchen von einer Hochzeit. Foto: Regina Schmeken
Orhan Pamuk Foto: picture alliance / dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Als das alte Istanbul verschwand: Orhan Pamuks
neuer Roman
„Diese Fremdheit in mir“
VON CHRISTOPH BARTMANN
Als Orhan Pamuk 2006 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ehrte ihn die Jury als einen Autor, „der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Geburtsstadt neue Symbole für den Zusammenprall und die Verflechtung der Kulturen“ gefunden habe. Ausgezeichnet wurde ein Schriftsteller, der souverän über die Mittel des zeitgenössischen westlichen Romans verfügt und in seinen besten Büchern („Schnee“, „Rot ist mein Name“, „Das schwarze Buch“) an Kafka oder Nabokov anschließt. Erst die Verbindung von beidem, von Istanbuler Melancholie und literarischer Kühnheit, hat Pamuks Rang begründet, jedenfalls in der westlichen Welt. Dass man in zwei Kulturen bewandert und dabei zugleich „absolut modern“ sein konnte, war eine Vorstellung, die nicht nur die Schwedische Akademie bezauberte.
Diese Vorgeschichte muss man in Erinnerung rufen, wenn man Pamuks neuen Roman „Diese Fremdheit in mir“ zur Hand nimmt. Etwas hat sich verändert in Pamuks Schreiben seit dem Nobelpreis vor zehn Jahren. Mehr denn je ist jetzt die Klage um die Verwandlung und Zerstörung des alten Istanbul ins Zentrum gerückt. Stärker als früher auch scheint Pamuks Hang zum Melodram zu sein. In Pamuks Roman „Das Museum der Unschuld“ trat noch eine dritte Tendenz hinzu. Die Dinge der Vergangenheit sollen vor dem Vergessen bewahrt, sie sollen aufbewahrt und gezeigt werden, nicht mehr nur im Roman, sondern im Museum. So baute sich Pamuk eine private Institution für seine eigenen Memorabilien, als wolle er den eigenen Landsleuten eine Lektion in Melancholie erteilen. Seine Bücher sollen und wollen nun, so scheint es, vor allem im eigenen Land verstanden werden und Wirkung erzielen.
Auf den ersten Blick wirkt der neue Roman freilich wie eines jener komplexen fiktionalen Bauwerke, wie sie Pamuk berühmt machten. Ein ganzes Ensemble von Erzählstimmen trägt eine Handlung vor, die der barocke Untertitel sogleich in ihrer Absicht erläutert: „Abenteuer und Träume von Mevlut Karatas, einem Boza-Verkäufer, und seiner Freunde, zugleich ein Porträt des Lebens in Istanbul von 1969 bis 2012 aus vielen verschiedenen Perspektiven“. „A Strangeness in My Mind“, heißt die Gedichtzeile von Wordsworth, die dem Roman den Titel gibt.
Man tut sich schwer, bei Mevlut, dem Protagonisten, tatsächlich Spuren dieser Fremdheit zu entdecken. Und wenn, dann ist es nur eine sehr leichte Fremdheit, so wie Boza, das Mevlut über vier Jahrzehnte mit seinem Lastjoch durch Istanbul trägt, ein sehr leichtes alkoholisches Getränk ist. Boza, gemacht aus fermentiertem Weizen, war, wie man lernt, ein beliebtes Getränk zu Zeiten des Sultanats, als Alkohol verpönt, aber ein kleiner Drink trotzdem willkommen war. Zur Zeit des Romans will in Istanbul kaum einer mehr Boza trinken, weshalb Mevlut sein Angebot auf Joghurt, Eis, Hähnchen mit Pilav und manch anderes ausdehnt. Boza, der Alkohol, der je nach Betrachtungsweise gar keiner ist, der die Gläubigen so froh stimmt wie die Ungläubigen, der so leicht ist, dass er niemandem schadet – Boza ist hier ein Symbol für gelebte Toleranz und friedvolles Miteinander, und sei es auch um den Preis eines ordentlichen Alkoholgehalts. Boza, so könnte man auch sagen, ist die Super-Metapher für diesen Roman selbst.
Pamuk lässt ihn mit einem melodramatischen Auftakt par excellence beginnen. „Von der Schwierigkeit, ein Mädchen zu entführen“ heißt das erste Kapitel: Auf einer Hochzeit hat sich „unser Held“ in eine glutäugige Schönheit aus dem Nachbardorf verliebt, der er fortan schmachtende Briefe schreibt, die natürlich unbeantwortet bleiben. Eines Nachts verschleppt er sie, mit tatkräftiger Hilfe seines Neffen, nach Istanbul, um noch vor Ankunft festzustellen, dass er versehentlich statt der schönen Samiha deren ältere Schwester Rayiha entführt hat. Macht nichts, sagt sich Mevlut, und auch die überrumpelte Rayiha findet sich schnell mit ihrem Schicksal ab.
Mevlut, der Mann mit dem Lastjoch, ist ein gutmütiger Held, den so schnell nichts aus der Bahn wirft. Zum ersten Mal hat Pamuk einen Roman vollständig aus der Perspektive eines sogenannten einfachen Mannes geschrieben. Auch wenn Mevluts Abenteuer und Träume von verschiedenen Figuren erzählt und kommentiert werden, geht die Erzählung kaum je über seinen Gesichtskreis und seine Vorstellungswelt hinaus. Das führt, bei aller Buntheit der geschilderten Umstände, zu einer gewissen Eintönigkeit. Gemildert wird sie durch vielerlei Wissenswertes über Stadt, Land und Welt zwischen 1969 und 2012. Der groß angelegte Stadthistorienroman verlangt nach solchen Hinweisen und Kontexten, nur bleiben sie als allgemeine Sachverhalte den Figuren fremd.
Pamuk will erkennbar dem Leser mehr mitteilen, als es die Lebenswelt seiner Figuren glaubhaft vermitteln kann. „Eine Fremdheit in mir“ – man meint bisweilen zu spüren, dass Pamuk mit seinen eigenen Figuren fremdelt. Alles soll so lebensnah wirken und könnte es vielleicht auch sein, wenn Pamuk seine Figuren wirklich von der Leine ließe. Das Problem ist nicht, dass Mevlut ein Simplex oder ein Schelm ist und deswegen die großen Zusammenhänge nicht durchschaut. Das Problem ist vielmehr, dass er so schrecklich gutmütig ist oder sein muss, eine Eigenschaft, die selten große Literatur nach sich zieht.
Vielleicht steht diese allzu offensichtliche Gutmütigkeit eines Helden, der ein bisschen religiös und ein bisschen säkular ist, der den überall lauernden Gefahren und Konflikten nach Kräften aus dem Weg geht, mit Pamuks pädagogischen Neigungen in Zusammenhang. Dies ist ein erstaunlich mildes, heiteres Buch geworden, erstaunlich deshalb, weil Pamuk auch anders kann und weil er auf 600 Seiten die Ursachen und Urheber der Zerstörung des alten Istanbul deutlich genug beim Namen nennt. Ist es vielleicht nicht nur vorsichtiger, sondern auch klüger und wirkungsvoller, wenn er sein Lebensthema diesmal auf eine Weise instrumentiert, die weder in ihrer Form noch in ihrer Botschaft mögliche Leser vor den Kopf stößt?
In diesem Roman jedenfalls präsentiert sich Pamuk als Aufklärer, der sein „J’accuse“ in menschenfreundlicher Form unter die Leute bringt. Wer verstehen will, warum Istanbul heute nicht mehr die tolerante, multikulturelle, kosmopolitische Stadt ist, an die Pamuk sein Herz verloren hat, findet in diesem Roman Erklärungen genug. Lange Passagen, und vielleicht die besten, sind einem Thema gewidmet, mit dem sich Pamuk, der gelernte Architekt, auskennt wie ein Profi: dem illegalen Bauen. „Gecekondu“ heißen solche provisorischen Bauten, Wohnkomplexe und -viertel, die jetzt die Hügel rings um die Stadt überziehen. Gebaut haben sie Leute wie Hadschi Hamit Vural.
Vielleicht ist er der heimliche Held des Romans, weder ein Schelm noch ein Schurke, aber einer, der in Mevluts Straßenhändlerwelt die Fäden zieht. Wie Mevlut und all die anderen ist er aus Anatolien nach Istanbul gekommen, aber anders als Mevlut hat er bald eine Moschee gestiftet und sich dann als Bauunternehmer etabliert. Hadschi Hamit Vural ist kein Fundamentalist oder Islamist, beides Wörter, die in Mevluts Welt kaum eine Rolle spielen, er ist ein Anführer der „Frommen“, der „Religiösen“, der sich mit Jobs, Wohnungen und anderen guten Werken die Gefolgschaft der Zuwanderer vom Lande verschafft.
Illegales Bauen und religiöses Eiferertum sind zwei Seiten derselben Medaille, verkörpert in Figuren wie Hadschi Hamit Vural, der sich ins Istanbuler Establishment vorarbeitet, ohne je ein Bürger sein zu wollen. Bei der Schilderung all dieser Machenschaften ist Pamuk spürbar in seinem Element, genauso wie in den Kapiteln, die Mevlut, nachdem er alle möglichen Jobs durchlaufen hat, als Stromableser zeigen. Was gibt es nicht alles an Möglichkeiten, den Stromableser zu täuschen? Und welche Einsichten ins Innerste der Stadt gewährt das Stromablesen dem wachsamen Ableser. In Mevluts ambulanten Tätigkeiten, dem Boza-Verkäufer oder dem Stromableser, hat Pamuk sich selbst, dem ambulanten Schriftsteller, ein Denkmal gesetzt.
Wie in Baudelaires Gedicht „Der Schwan“ wird dem Wanderer alles, was er sieht, zur Allegorie, aber die Melancholie raubt ihm nichts von seiner Wachsamkeit. „Diese Fremdheit in mir“ ist ein Buch geworden, das es seinen Lesern vordergründig zu leicht macht. Sein tatsächlicher Gehalt erschließt sich erst, wenn man die Handlung Handlung sein lässt und, wie der Stromableser, ein bisschen hinter die Fassaden schaut.
Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2016. 592 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Der heimliche Held ist der
Bauunternehmer – er tritt auf
als Architekt der Zerstörung
„,Die Liebe ist eine Krankheit‘, dozierte der Hodscha. ,Und als Notfallmedizin hilft dagegen,
da hast du schon recht, die Ehe‘“: Zu Beginn des Romans entführt Pamuks Held gleich mal ein Mädchen von einer Hochzeit. Foto: Regina Schmeken
Orhan Pamuk Foto: picture alliance / dpa
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DDR-Vergangenheit
Besprechung von 12.03.2016
Dann bauen wir eine Mauer
Landflucht, Generationenkonflikt, DDR-Vergangenheit: Juli Zeh packt in ihrem multiperspektivischen Dorfroman "Unterleuten" die ganz großen Themen an. Kann das gutgehen?
Von Sandra Kegel
Eigentlich ist es eine bestechende Idee, einen Gesellschaftsroman in der brandenburgischen Tiefebene siebzig Kilometer nordwestlich von Berlin anzusiedeln. Schon vor Jahren hat der Kabarettist und Spezialist für regionale Befindlichkeiten, Rainald Grebe, in seiner Ode an "Brandenburg" den Dada-Soundtrack dazu vorgelegt. Und erst jüngst ließ nicht nur das Polarlicht das märkische Land leuchten, sondern auch die Literatur von Sasa Stanisic oder Roland Schimmelpfennig.
Nun hat sich auch Juli Zeh darangemacht, das märkische Land in epischer Breite zu vermessen. Unter knorrigen Birnbäumen und in alten Dorfschenken versammelt sie die gegensätzlichsten Typen: Alteingesessene und Neubewohner, jene, die Zuflucht vor der Großstadt suchen, und solche, die am Ort ihrer Jugend gestrandet oder dem Ostprignitzer Sand erst gar nicht entkommen sind. Doch nicht nur mit dem Zuzug ehrgeiziger Pferdefrauen und professoraler Vogelwarte aus der Hauptstadt stirbt das alte Dorf jeden Tag ein bisschen mehr.
Der idyllische Fleck mit dem sprechenden Namen, der vor allem für diejenigen wie Heimat aussieht, die nicht von hier stammen, befindet sich seit Jahren in stummer Feindschaft. Befeuert vom Lauf der Geschichte - von den Bomben des Zweiten Weltkriegs über den Bau der Mauer bis zum anschließenden Fall derselben -, gibt es offene Rechnungen zuhauf unter den Leuten. Brüder haben sich als Neider entpuppt, Freunde als Verräter, Ehefrauen als Stasispitzel. Doch erst, als der Bürgermeister plant, die Gemeinde mit Windrädern vor der Pleite zu retten, brechen die Konflikte aufs Neue auf. Und spätestens, als sich die Dorfgesellschaft im überfüllten Tanzsaal des "Landmanns" zur Gemeinderatssitzung trifft und der Streit über den geplanten Windpark in eine Prügelei ausartet, herrscht Krieg in Unterleuten.
Weil schon die Frage, auf welchem Stück Land die Ungetüme dereinst rotieren werden, ganz neue Sieger und Verlierer hervorbringt. Die Besitzer des einst nutzlosen Grunds stehen plötzlich als Profiteure da, während den anderen nur die unschöne Aussicht auf die von der EU subventionierten Gelddruckmaschinen bleibt. Aber noch ist kein Grundstück gewählt, und weil in diesem wildgewordenen Dorf bald alle Waffen erlaubt sind, werden nicht nur Kinder und Katzen entführt, sondern gibt es am Ende einige Tote zu beklagen.
Die 1974 geborene Juristin Juli Zeh, die sich mit Romanen wie "Adler und Engel", "Schilf" und "Nullzeit" ebenso wie mit Essays zu Fragen von Recht, Moral sowie dem Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit einen Namen gemacht hat, packt in diesem Buch die ganz großen Themen an: Landflucht und DDR-Vergangenheit, Generationen- und Geschlechterkonflikte, Energie- und Ehekrisen, Kapitalismuskritik, Immobilienspekulation, Überwachungsstaat, Zersiedelung - das alles und noch viel mehr bündelt sie in ihrem auf mehr als sechshundert Seiten angelegten Gesellschaftspanorama. Interessanterweise lässt der Roman die Generation Hoyerswerda, die auch dort ihre Brandspuren hinterlässt und uns gerade in diesen Tagen beschäftigt, völlig außen vor.
Doch so effektiv es für die kompositorische Anlage auf den ersten Blick ist, den ländlichen Mikrokosmos als Spiegelfläche für zeitdiagnostische Thesen zu wählen, verweht der Plot bald wie märkischer Sand. Auf der Strecke bleibt die literarische Finesse. Nicht etwa, weil Juli Zeh diesen heißen Sommer abwechselnd aus der personalen Perspektive von zwölf verschiedenen Protagonisten schildert. Ulrike Draesner hat mit ihrem multiperspektivischen Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" den Reiz dieser Erzählform zuletzt ebenso vorgeführt wie etwa Eva Menasse in "Quasikristalle".
Doch Juli Zeh ufert in der Handlungsfülle aus und geht erzählerisch so sehr in die Breite, dass es ihr bei der Figurenzeichnung schlicht an Tiefe mangelt. Die Zuzügler aus der Stadt wie die Bauern-Patriarchen aus Unterleuten, die hier ein ums andere Mal aufeinandertreffen, umeinander kreisen oder sich verpassen, sie müssen vor allem eines leisten: einen bestimmten Standpunkt, eine bestimmte Haltung transportieren. Da ist der enttäuschte Unidozent, der zum Wutbürger mutiert, die misshandelte Ehefrau, die irgendwann ihre Koffer packt, der hochsensible Schriftsteller, der seine Schreibhemmung mit Rasenmähen zu kurieren versucht. Zusammengenommen sollen sie den vielstimmigen Sound unserer Zeit abbilden. Jede Figur für sich aber bleibt den Aufträgen ihrer Schöpferin verhaftet und also berechenbar. Das ist schade, gerade weil der Roman immer wieder auch mit kuriosen Einfällen und unerwarteten Wendungen aufwartet. Das Unternehmen als Ganzes aber hat etwas Konstruiertes und Angestrengtes, das auf Kosten der Leichtigkeit geht.
Einer der Granden im Dorf ist der Wendegewinnler Gombrowski. Dem Spross ehemaliger Großgrundbesitzer war es mit einiger krimineller Energie gelungen, die Besitztümer seiner Ahnen, zu DDR-Zeiten enteignet, nach dem Fall der Mauer wieder an sich zu reißen. Doch um seinen nun "Ökologica" getauften Betrieb steht es längst nicht mehr gut, weshalb der Alte noch einmal alle Kräfte mobilisiert, um das Rennen um die Windräder für sich zu entscheiden. Auch sein Widersacher, der Altkommunist Kron, spekuliert auf die Anlage, vor allem aber deshalb, weil er mit Hilfe des neuen Rückenwinds seinen ewigen Gegenspieler Gombrowski, der alle Geschicke im Dorf lenkt, endlich zu Fall bringen will.
Was die beiden verbindet, ist zugleich das dunkle Geheimnis von Unterleuten. Denn ein Dritter kam in jenen schicksalhaften Tagen nach der Wende unter einer alten Buche ums Leben, als Gombrowski Verbündete für seine "Ökologica" brauchte und jene Dörfler mit Alternativplänen mit allen Mitteln mundtot machen wollte. Das ging so weit, dass seither im Dorf gemunkelt wird, Gombrowski, der auch seine Frau bisweilen windelweich schlägt, schrecke vor Mord nicht zurück.
Ermittelt aber wurde nie. Die Unterleuter hatten die DDR überlebt und wussten, "wie man sich den Staat vom Leibe hielt", heißt es an einer Stelle im Roman. Sie lösen, soll das heißen, ihre Probleme auch heute auf ihre Weise, nämlich unter sich. Dass diese Erkenntnis vor allem den Neu-Unterleutern verborgen bleibt, trägt nicht unerheblich zu deren Problemen bei. Denn wer auch immer sich aus Berlin, Oldenburg oder Ingolstadt dorthin verirrt, stößt auf gelebte Anarchie. Vergessen von der Welt und also unfreiwillig subversiv, dämmert es dem Soziologen Gerhard Fließ irgendwann, sei das Dorf nichts anderes als ein "gesellschaftspraktisches Paralleluniversum".
Dieser Fließ, der einst über die "Topographie des Aufstands" habilitierte und sich mit Transparenz-Workshops und Gesellschaftsdiagnose-Seminaren an der Humboldt-Universität über Wasser hielt, ehe er im brandenburgischen Paralleluniversum seine Berufung als "Held der Bewahrung" fand, ist wie aus dem Setzbaukasten entworfen. Als Vogelwart und Jungvater hat er zusammen mit seiner ehemaligen Studentin Jule einen ehemaligen Hof in ein warmes Nest umgebaut. Um dann festzustellen, dass ihm nicht nur die Hitze zu schaffen macht, sondern mehr noch die vom Nachbargrundstück herüberwehenden Giftgase. Dort pumpt ein irre gewordener Autoschrauber so viel Dreck in die Luft, dass Gerhard und Jule sich bald mit Mordgedanken tragen und ihr Paradies ausgerechnet mit einem Mauerbau vor dem höllischen Gestank schützen wollen.
Es sind Wendungen dieser Art, so überdeutlich markiert, die gerade bei einer begabten Autorin wie Juli Zeh frustrieren. Jede Kraftanstrengung ist "gewaltig", jedes Lächeln "breit" und Gesichter "frisch renoviert". Der sprachliche Aufwand, die schiefen Bilder, die vielen missglückten Sätze und die klischeehaften Bausteine machen da bisweilen nicht weniger heiße Luft als die Windräder, die im Plot die Atmosphäre im Dorf aufheizen.
Dass Juli Zeh einer ihrer Heldinnen den Namen des amerikanischen Gesellschaftsromanciers Jonathan Franzen verpasst hat, ist bezeichnend für eine Prosa, die sich mit Andeutungen nicht begnügen mag. Deshalb muss die ratgeberhörige Linda Franzen, die als Pferdeflüsterin reüssiert und für ihren Zuchthengst Bergamotte in Unterleuten das entsprechende Ambiente sucht, als Stellervertreterin aller Selbstoptimierer dieser Welt herhalten. Natürlich ist der Freund der Pferdefrau ein blasser Programmierer, dem jede animalische Erotik abgeht, während sie sich als "Moverin" versteht und Eigenkontrolle als Währung ihres Erfolgs ansieht. Im Eigenheim sieht sie ein Mittel, das "beängstigende Möglichkeitslabyrinth der Zukunft in überschaubares Terrain" zu verwandeln: "Inzwischen glaubte Linda, dass das menschliche Schicksal nicht an Gott, sondern am Grundbesitz hing. Transzendentale Obdachlosigkeit war keine Folge des Religionsverlustes, sondern der Inflation von Mietwohnungen." Ja, so denken sie, die Romanfiguren.
In Interviews hat Juli Zeh, die heute selbst in Brandenburg lebt, immer wieder betont, wie gern sie auf dem Land wohne, das sie an ihre Studentenzeit in Wohngemeinschaften erinnere - man teile Alltag und Lebensraum, "ohne eng befreundet sein zu müssen". Vielleicht wurzelt hier das Problem: dass der Roman in Wahrheit selbst gegen Windmühlen kämpft. Das fiktive Dorf - das sich verhielt "wie ein Kind, das von Hautausschlag befallen war. Die Klatschsucht war ein Juckreiz, und das Dorf kratzte sich" - bleibt am Ende ausgedacht. Das Welttheater auf der Dorfbühne findet nicht statt, und was immer tatsächlich dort aufzuspüren wäre, bleibt unentdeckt. Denn wie heißt es im Song von Rainald Grebe? "Es gibt Länder, wo was los ist, / Es gibt Länder, wo richtig was los ist / und es gibt / Brandenburg." Aufregend ist es auch dort, natürlich. Man muss sich nur darauf einlassen.
Juli Zeh: "Unterleuten". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 640 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Mai
Der goldene Handschuh
Im schwarzen Loch
Gegenschrecken als Ohnmachtsbewältigung: Heinz Strunks Roman „Der goldene Handschuh“
erzählt von dem Frauenmörder Fritz Honka und dem Hamburger Absturzmilieu der Siebzigerjahre
VON TEX RUBINOWITZ
Zum Goldenen Handschuh“, das ist eine schimmlige Kaschemme in Hamburgs deprimierendem Stadtteil St. Pauli, vor mehr als fünfzig Jahren von einem Berufsboxer namens Herbert Nürnberg gegründet, daher der Name; sie hat an 365 Tagen 24 Stunden geöffnet, es gibt keinen, der das Licht ausmacht, immer gibt es noch einen Allerletzten.
Heinz Strunk ist ein Autor, der vor mehr als fünfzig Jahren auf der falschen Seite der Elbe geboren wurde, im deprimierenden Hamburg-Harburg, im Schatten einer Autoreifenfabrik. Er spielte zwölf Jahre Querflöte in einer Tanzmusikcombo auf unfidelen Feuerwehrfesten, darüber hat er ein Buch geschrieben, „Fleisch ist mein Gemüse“, das sich 500 000 Mal verkauft hat. Nach weiteren biografisch gefärbten Büchern über seine trostlose Kindheit, seine verheerende Akne, den Tod seiner Mutter und seine Versuche als weitgehend ignorierter Komiker mit Themen wie endlose Masturbationen (Melken), Christoph Grissemann in Afrika und Schorf als Chance für eine straffere Haut schrieb er nun ein Buch über jene Boxerkneipe, und speziell einen Stammgast: Fritz Honka.
„Die Frau, die reinkommt“, heißt es bei Strunk, „zittert vor Kälte und ist ziemlich klein. Wie schmutziger Schaum ergießt sich farbloses, dünnes Haar über die Rückseite ihres eierförmigen Schädels. Ihr Blick ist leer, das Gesicht einer Kriegsgefangenen. Sie könnte fünfzig sein oder siebzig. Unter dem Mantel trägt sie nur einen Kittel, einen schrecklichen, blauen Putzfrauenkittel. Je länger man sie anschaut, desto furchtbarer sieht sie aus, gerade wenn man Alkohol getrunken hat, so rum geht’s nämlich auch. Man kann sich schon nicht mehr vorstellen, wie die früher mal ausgesehen hat als Frau.“
Fritz Honka ist ein schmächtiger, gedemütigter Mann mit riesigen Händen, dramatisch schielend, das rechte Auge wie ausgelaufen, die Nase nach links gebogen. Er arbeitete als Nachtwächter, brachte zwischen 1970 und 1975 vier ältere, zahnlose Gelegenheitsprostituierte um, die er im Handschuh kennenlernte. Er nahm sie zu sich mit nach Hause, in seine überheizte Dachwohnung, man trank bis zur Besinnungslosigkeit – zwei Nichtschwimmer, die sich aneinanderklammern, um ihre unartikulierbare Verwirrung zu teilen. Bis sich Kräfte zusammenballen, die außerhalb ihres kontrollierten Bewusstseins liegen, eine zunächst nach innen gerichtete Gewalt, eine ständig kratzende Bedrohung, die irgendwann aufbrechen muss und in unregelmäßigen Zeitabständen auch aufbrach, und in der Katastrophe kulminierte.
Am Ende wachte er neben den Leichen auf, ohne sich an den genauen Tathergang erinnern zu können. Überfordert und zu schwach, um sie fortzuschaffen, zersägte er die Frauen, stopfte die Leichenteile hinter eine Wand, wo sie vor sich hingammelten. Dem beißenden Geruch versuchte er mit Klosteinen und Wunderbäumen beizukommen. Honka denkt: „Das ist alles, was von uns eines Tages übrigbleibt, sinnlose, blutende Löcher und Flecken.“ Niemand vermisste diese seelenlosen Frauen, auch weil sie, als sie noch lebten, ihr untotes Leben ohne viel Hoffnung in Wohnsitzlosigkeit abwickelten. Eine dieser schwachen Frauen macht sich in seiner Wohnung kleiner als sie ist, „sie weiß, dass sie keinen schönen Anblick abgibt, je weniger von ihr da ist, desto weniger gibt es, um sich darüber zu ärgern. Draußen ist es kalt, und sie möchte noch ein wenig bleiben.“
Fritz Honka war Mitte der Siebzigerjahre so eine Art Gespenst des Grauens, von der misanthropischen Bild-Zeitung in kalkuliert populistischer Ekelfaszination aufgebaut als Synonym für das Böse per se. Jedem, der in dieser Zeit aufwuchs, ist der Name Honka nicht bloß ein Name, sondern mehr noch ein angstschürender Begriff. Max Müller von der Band Mutter nannte seine erste, primitiv rumpelnde Band Honkas, so als sei das eine Art Vergangenheitsbewältigung mit Mitteln des Gegenschreckens. Mit belegter Stimme besang er alte Männer hinter vergilbten Gardinen, in dumpfen Zimmern, die nach Schweiß, Magensäure und Leid riechen, Aussätzige, über die die Kinder auf der Straße lachen.
Der Grat zwischen Mitleid und Ekel ist klein, bei Müller wie bei Strunk. Es gibt keine Fotos aus jener Zeit aus diesem untersten aller nur denkbaren Absturzmilieus, aber der schwedische Fotograf Anders Petersen hat etwa zur gleichen Zeit seine viel beachtete Reportage über die unweit vom Handschuh gelegene, relativ milieugleiche Stehbierhalle Café Lehmitz gemacht, kürzlich wieder aufgelegt als Buch bei Schirmer/Mosel. Es zeigt Verrutschte des Daseins, die den Ausstieg verpasst haben, und andere Resignierte, die komatös vielleicht noch von ihrer Rettung träumen können, zumindest bis die Wirkung des Alkohols nachlässt und jemand einen zum nächsten Schnaps einlädt, Motto: Bitte nicht nach Hause schicken. Wenn man Strunks Bericht, Müllers Musik und Petersens Bilder übereinanderlegen würde, bekäme man vermutlich Düsternis in 3-D.
Nun hat Heinz Strunk nicht nur eine klassische Milieustudie der Verzweiflung abgeliefert, sondern er versucht, die Ohnmacht zu spiegeln, versucht zu zeigen, dass nicht nur, wer von unten kommt, in den meisten Fällen unten bleiben und unten untergehen muss, sondern, dass vom Handschuh auch eine magische Bedrohung „nach oben“ ausgeht, zu wissen, dass es so etwas gibt, dass man nur einmal in die Hölle blicken muss, sozusagen als nützliche Hölle, um sich seiner eigenen vermeintlichen Unverwundbarkeit und geschützten Herkunft zu versichern.
Deshalb hat Strunk in seinem Buch einen zweiten Erzählstrang eingebaut, mit Personal aus der scheinbar sicheren Welt des alten Geldes, den Reederdynastien der gepflegten Vororte Hamburgs, einen Strang, der sich unaufhaltsam dem anderen Strang nähert, dem der schlaffen Marionetten in der Hand eines müden Gottes an diesem schauerlichen Ort. Aber diese Parallelen werden sich nie kreuzen, weil sie sich dann beide in dem Moment, wo es passieren könnte, wieder voneinander entfernen, in ihre jeweiligen sprachlosen Unendlichkeiten, manchmal wird eben doch nicht wahr, was wahr werden könnte. „Langeweile ist verdünnter Schmerz (. . .) sie ist gewissermaßen ein der Depression vorgeschalteter Zustand (. . .) keine echte Verzweiflung, nur ein seltsames Vakuum“, wie einer von der angeblich sonnigen Seite sinniert.
Es gibt aber im Buch auch so etwas wie blasse Graduierungen der Hoffnung in vollkommener Glücksabwesenheit, etwa wenn Honka ausbricht, um eine Hafenrundfahrt zu machen. Er lässt sich beeindrucken von den aggressiv „witzigen“ Sprüchen des Schiffsführers, er versucht, sich alles zu merken, um in der Gesellschaft wenigstens mit etwas Eloquenz bestehen zu können, merkt indes nicht, dass diese Witze auf Kosten der Zuhörer gemacht werden. Auch hier wieder nur hierarchische Verachtung, an deren unterem Saum die verstummten Ahnungslosen zurückbleiben, fassungslos und in Katalepsie verharren, all die „veridioteten Witzwesen, Fickfehler, mit Gesichtern aus zerschmolzenen Horrormasken“.
Nun könnte man Strunk Perfidität vorwerfen, er stelle sein Personal aus, führe es ohne Gnade vor, weil es sich nicht wehren kann und auch noch nie konnte, aber es sind eher Protokolle einer sprachlosen Gesellschaft, deren Münder nur noch große schwarze Löcher sind. Keiner hilft keinem, wenn man sich selbst ganz fremd und immer fremder geworden ist, mit vor Schmerzen verkrümmten Seelen. Selten war die hohle Phrase vom „Scheitern als Chance“ mehr entlarvt als das, was sie ist: hohntriefender Dünkel, zumindest hier an Orten wie dem Goldenen Handschuh. Das Buch analysiert nichts, dazu ist es genauso ohnmächtig wie seine Opfer, distanziert sich aber auch nicht von ihnen, und es leistet sich ihnen gegenüber auch nur so viel Empathie, wie nötig ist, um zu erkennen: Brauchst gar nicht wegzuschauen, das könntest nämlich genauso gut auch du sein.
Im Handschuh gibt es eine trostspendende Musicbox, einige Musiktitel daraus werden im Buch „angespielt“, Gittes „Ich hab die Liebe verspielt in Monte Carlo“ oder „Ich wünsch mir ’ne kleine Miezekatze“ eines Zeichentrickhunds namens Wum. Monte Carlo und Miezekatze als allerletzte Ausfahrten ins Glück. Doch man wird nie ankommen.
Honka war Mitte der Siebziger
so eine Art Gespenst des Grauens,
das personifizierte Böse
Strunk leistet sich nur so viel
Einfühlung, wie nötig ist, um zu
erkennen: Wegschauen zwecklos
Bitte nicht nach Hause schicken, lautet das Lebensmotto der Gestrandeten in den Kneipen von St. Pauli.
Foto: Andre Luetzen / laif
Gegenschrecken als Ohnmachtsbewältigung: Heinz Strunks Roman „Der goldene Handschuh“
erzählt von dem Frauenmörder Fritz Honka und dem Hamburger Absturzmilieu der Siebzigerjahre
VON TEX RUBINOWITZ
Zum Goldenen Handschuh“, das ist eine schimmlige Kaschemme in Hamburgs deprimierendem Stadtteil St. Pauli, vor mehr als fünfzig Jahren von einem Berufsboxer namens Herbert Nürnberg gegründet, daher der Name; sie hat an 365 Tagen 24 Stunden geöffnet, es gibt keinen, der das Licht ausmacht, immer gibt es noch einen Allerletzten.
Heinz Strunk ist ein Autor, der vor mehr als fünfzig Jahren auf der falschen Seite der Elbe geboren wurde, im deprimierenden Hamburg-Harburg, im Schatten einer Autoreifenfabrik. Er spielte zwölf Jahre Querflöte in einer Tanzmusikcombo auf unfidelen Feuerwehrfesten, darüber hat er ein Buch geschrieben, „Fleisch ist mein Gemüse“, das sich 500 000 Mal verkauft hat. Nach weiteren biografisch gefärbten Büchern über seine trostlose Kindheit, seine verheerende Akne, den Tod seiner Mutter und seine Versuche als weitgehend ignorierter Komiker mit Themen wie endlose Masturbationen (Melken), Christoph Grissemann in Afrika und Schorf als Chance für eine straffere Haut schrieb er nun ein Buch über jene Boxerkneipe, und speziell einen Stammgast: Fritz Honka.
„Die Frau, die reinkommt“, heißt es bei Strunk, „zittert vor Kälte und ist ziemlich klein. Wie schmutziger Schaum ergießt sich farbloses, dünnes Haar über die Rückseite ihres eierförmigen Schädels. Ihr Blick ist leer, das Gesicht einer Kriegsgefangenen. Sie könnte fünfzig sein oder siebzig. Unter dem Mantel trägt sie nur einen Kittel, einen schrecklichen, blauen Putzfrauenkittel. Je länger man sie anschaut, desto furchtbarer sieht sie aus, gerade wenn man Alkohol getrunken hat, so rum geht’s nämlich auch. Man kann sich schon nicht mehr vorstellen, wie die früher mal ausgesehen hat als Frau.“
Fritz Honka ist ein schmächtiger, gedemütigter Mann mit riesigen Händen, dramatisch schielend, das rechte Auge wie ausgelaufen, die Nase nach links gebogen. Er arbeitete als Nachtwächter, brachte zwischen 1970 und 1975 vier ältere, zahnlose Gelegenheitsprostituierte um, die er im Handschuh kennenlernte. Er nahm sie zu sich mit nach Hause, in seine überheizte Dachwohnung, man trank bis zur Besinnungslosigkeit – zwei Nichtschwimmer, die sich aneinanderklammern, um ihre unartikulierbare Verwirrung zu teilen. Bis sich Kräfte zusammenballen, die außerhalb ihres kontrollierten Bewusstseins liegen, eine zunächst nach innen gerichtete Gewalt, eine ständig kratzende Bedrohung, die irgendwann aufbrechen muss und in unregelmäßigen Zeitabständen auch aufbrach, und in der Katastrophe kulminierte.
Am Ende wachte er neben den Leichen auf, ohne sich an den genauen Tathergang erinnern zu können. Überfordert und zu schwach, um sie fortzuschaffen, zersägte er die Frauen, stopfte die Leichenteile hinter eine Wand, wo sie vor sich hingammelten. Dem beißenden Geruch versuchte er mit Klosteinen und Wunderbäumen beizukommen. Honka denkt: „Das ist alles, was von uns eines Tages übrigbleibt, sinnlose, blutende Löcher und Flecken.“ Niemand vermisste diese seelenlosen Frauen, auch weil sie, als sie noch lebten, ihr untotes Leben ohne viel Hoffnung in Wohnsitzlosigkeit abwickelten. Eine dieser schwachen Frauen macht sich in seiner Wohnung kleiner als sie ist, „sie weiß, dass sie keinen schönen Anblick abgibt, je weniger von ihr da ist, desto weniger gibt es, um sich darüber zu ärgern. Draußen ist es kalt, und sie möchte noch ein wenig bleiben.“
Fritz Honka war Mitte der Siebzigerjahre so eine Art Gespenst des Grauens, von der misanthropischen Bild-Zeitung in kalkuliert populistischer Ekelfaszination aufgebaut als Synonym für das Böse per se. Jedem, der in dieser Zeit aufwuchs, ist der Name Honka nicht bloß ein Name, sondern mehr noch ein angstschürender Begriff. Max Müller von der Band Mutter nannte seine erste, primitiv rumpelnde Band Honkas, so als sei das eine Art Vergangenheitsbewältigung mit Mitteln des Gegenschreckens. Mit belegter Stimme besang er alte Männer hinter vergilbten Gardinen, in dumpfen Zimmern, die nach Schweiß, Magensäure und Leid riechen, Aussätzige, über die die Kinder auf der Straße lachen.
Der Grat zwischen Mitleid und Ekel ist klein, bei Müller wie bei Strunk. Es gibt keine Fotos aus jener Zeit aus diesem untersten aller nur denkbaren Absturzmilieus, aber der schwedische Fotograf Anders Petersen hat etwa zur gleichen Zeit seine viel beachtete Reportage über die unweit vom Handschuh gelegene, relativ milieugleiche Stehbierhalle Café Lehmitz gemacht, kürzlich wieder aufgelegt als Buch bei Schirmer/Mosel. Es zeigt Verrutschte des Daseins, die den Ausstieg verpasst haben, und andere Resignierte, die komatös vielleicht noch von ihrer Rettung träumen können, zumindest bis die Wirkung des Alkohols nachlässt und jemand einen zum nächsten Schnaps einlädt, Motto: Bitte nicht nach Hause schicken. Wenn man Strunks Bericht, Müllers Musik und Petersens Bilder übereinanderlegen würde, bekäme man vermutlich Düsternis in 3-D.
Nun hat Heinz Strunk nicht nur eine klassische Milieustudie der Verzweiflung abgeliefert, sondern er versucht, die Ohnmacht zu spiegeln, versucht zu zeigen, dass nicht nur, wer von unten kommt, in den meisten Fällen unten bleiben und unten untergehen muss, sondern, dass vom Handschuh auch eine magische Bedrohung „nach oben“ ausgeht, zu wissen, dass es so etwas gibt, dass man nur einmal in die Hölle blicken muss, sozusagen als nützliche Hölle, um sich seiner eigenen vermeintlichen Unverwundbarkeit und geschützten Herkunft zu versichern.
Deshalb hat Strunk in seinem Buch einen zweiten Erzählstrang eingebaut, mit Personal aus der scheinbar sicheren Welt des alten Geldes, den Reederdynastien der gepflegten Vororte Hamburgs, einen Strang, der sich unaufhaltsam dem anderen Strang nähert, dem der schlaffen Marionetten in der Hand eines müden Gottes an diesem schauerlichen Ort. Aber diese Parallelen werden sich nie kreuzen, weil sie sich dann beide in dem Moment, wo es passieren könnte, wieder voneinander entfernen, in ihre jeweiligen sprachlosen Unendlichkeiten, manchmal wird eben doch nicht wahr, was wahr werden könnte. „Langeweile ist verdünnter Schmerz (. . .) sie ist gewissermaßen ein der Depression vorgeschalteter Zustand (. . .) keine echte Verzweiflung, nur ein seltsames Vakuum“, wie einer von der angeblich sonnigen Seite sinniert.
Es gibt aber im Buch auch so etwas wie blasse Graduierungen der Hoffnung in vollkommener Glücksabwesenheit, etwa wenn Honka ausbricht, um eine Hafenrundfahrt zu machen. Er lässt sich beeindrucken von den aggressiv „witzigen“ Sprüchen des Schiffsführers, er versucht, sich alles zu merken, um in der Gesellschaft wenigstens mit etwas Eloquenz bestehen zu können, merkt indes nicht, dass diese Witze auf Kosten der Zuhörer gemacht werden. Auch hier wieder nur hierarchische Verachtung, an deren unterem Saum die verstummten Ahnungslosen zurückbleiben, fassungslos und in Katalepsie verharren, all die „veridioteten Witzwesen, Fickfehler, mit Gesichtern aus zerschmolzenen Horrormasken“.
Nun könnte man Strunk Perfidität vorwerfen, er stelle sein Personal aus, führe es ohne Gnade vor, weil es sich nicht wehren kann und auch noch nie konnte, aber es sind eher Protokolle einer sprachlosen Gesellschaft, deren Münder nur noch große schwarze Löcher sind. Keiner hilft keinem, wenn man sich selbst ganz fremd und immer fremder geworden ist, mit vor Schmerzen verkrümmten Seelen. Selten war die hohle Phrase vom „Scheitern als Chance“ mehr entlarvt als das, was sie ist: hohntriefender Dünkel, zumindest hier an Orten wie dem Goldenen Handschuh. Das Buch analysiert nichts, dazu ist es genauso ohnmächtig wie seine Opfer, distanziert sich aber auch nicht von ihnen, und es leistet sich ihnen gegenüber auch nur so viel Empathie, wie nötig ist, um zu erkennen: Brauchst gar nicht wegzuschauen, das könntest nämlich genauso gut auch du sein.
Im Handschuh gibt es eine trostspendende Musicbox, einige Musiktitel daraus werden im Buch „angespielt“, Gittes „Ich hab die Liebe verspielt in Monte Carlo“ oder „Ich wünsch mir ’ne kleine Miezekatze“ eines Zeichentrickhunds namens Wum. Monte Carlo und Miezekatze als allerletzte Ausfahrten ins Glück. Doch man wird nie ankommen.
Honka war Mitte der Siebziger
so eine Art Gespenst des Grauens,
das personifizierte Böse
Strunk leistet sich nur so viel
Einfühlung, wie nötig ist, um zu
erkennen: Wegschauen zwecklos
Bitte nicht nach Hause schicken, lautet das Lebensmotto der Gestrandeten in den Kneipen von St. Pauli.
Foto: Andre Luetzen / laif
Kertész ist gestorben
Kertész ist gestorben.
Der ungarische Schriftsteller Imre Kertész ist nach langer Krankheit mit 86 Jahren gestorben. Das teilte sein Verlag mit. Er gilt als einer der bedeutendsten Autoren der europäischen Nachkriegsliteratur. Für seine großenteils autobiografischen Werke erhielt Kertész im Jahr 2002 den Literatur-Nobelpreis.
Kertész wurde am 9. November 1929 in Budapest geboren. Nachdem die deutschen Truppen Ungarn besetzt hatten, wurde er im Juli 1944 in die Vernichtungslager Auschwitz, Buchenwald und Tröglitz/Rehmsdorf bei Zeitz deportiert. Seine KZ-Erfahrung wurde zum Hauptthema seines Schaffens. Sein bekanntestes Werk ist der "Roman eines Schicksallosen", in dem er seine Inhaftierung verarbeitet.
Dieser erste Roman, der 1975 veröffentlicht wurde, lehnte zunächst ein staatlicher Verlag Ungarns ab. Nach der Veröffentlichung wurde er dann lange Zeit in der Rezeption ignoriert. Erst 1985 brachte eine Neuauflage in einem liberaleren politischen Klima die literarische Anerkennung. Der Stoff wurde 2004 nach einem Drehbuch von Kertész verfilmt, die deutsche Fassung auf der Berlinale 2005 vorgestellt.
Nobelpreis als "Glückskatastrophe"
Auch das übrige Romanschaffen Kertész' trägt starke autobiografische Züge. Internationalen Erfolg hatten seine Romane "Fiasko" (1999), "Liquidation" (2003) und "Letzte Einkehr" (2009). Kertész erhielt viele internationale Preise und war Ehrendoktor der Freien Universität Berlin.
Im Jahr 2002 erhielt Kertész für sein Gesamtwerk den Nobelpreis für Literatur. Er selbst bezeichnete die Auszeichnung als "Glückskatastrophe", über die er sich freute, die ihn gleichzeitig aber "ersticken ließ an der falschen Ehrfurcht, der Liebe, dem Hass und der ihm nun zugedachten öffentlichen Rolle", wie er es in "Letzte Einkehr", seinen 2013 publizierten Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 2001 bis 2009, formulierte.
Wohl bei keinem anderen Schriftsteller sind Werk und Tagebuch so eng verflochten wie bei Kertész. Nach "Galeerentagebuch", der erschütternden Dokumentation seiner 30-jährigen geistigen Isolation im sozialistischen Ungarn zwischen 1961 und 1991, und "Letzte Einkehr" erschien am 10. März 2016 in Ungarn ein Abschlussband der Tagebuchveröffentlichungen. Die deutsche Übersetzung, "Der Betrachter - Aufzeichnungen 1991-2001", wird im Herbst dieses Jahres bei Rowohlt herauskommen.
Von 2002 bis 2012 lebte Kertész überwiegend in Berlin. Erst 2012 kehrte er, bereits schwer an Parkinson erkrankt, nach Budapest zurück, wo er am 31. März seiner Krankheit erlegen ist.
Dieser erste Roman, der 1975 veröffentlicht wurde, lehnte zunächst ein staatlicher Verlag Ungarns ab. Nach der Veröffentlichung wurde er dann lange Zeit in der Rezeption ignoriert. Erst 1985 brachte eine Neuauflage in einem liberaleren politischen Klima die literarische Anerkennung. Der Stoff wurde 2004 nach einem Drehbuch von Kertész verfilmt, die deutsche Fassung auf der Berlinale 2005 vorgestellt.
Nobelpreis als "Glückskatastrophe"
Auch das übrige Romanschaffen Kertész' trägt starke autobiografische Züge. Internationalen Erfolg hatten seine Romane "Fiasko" (1999), "Liquidation" (2003) und "Letzte Einkehr" (2009). Kertész erhielt viele internationale Preise und war Ehrendoktor der Freien Universität Berlin.
Wohl bei keinem anderen Schriftsteller sind Werk und Tagebuch so eng verflochten wie bei Kertész. Nach "Galeerentagebuch", der erschütternden Dokumentation seiner 30-jährigen geistigen Isolation im sozialistischen Ungarn zwischen 1961 und 1991, und "Letzte Einkehr" erschien am 10. März 2016 in Ungarn ein Abschlussband der Tagebuchveröffentlichungen. Die deutsche Übersetzung, "Der Betrachter - Aufzeichnungen 1991-2001", wird im Herbst dieses Jahres bei Rowohlt herauskommen.
Von 2002 bis 2012 lebte Kertész überwiegend in Berlin. Erst 2012 kehrte er, bereits schwer an Parkinson erkrankt, nach Budapest zurück, wo er am 31. März seiner Krankheit erlegen ist.
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