Verdens litteratur, men særligt litteratur på tysk er en samling anmeldelser af forskellige tysksprogede bøger, som jeg finder spændende og gerne vil dele med andre. Anmeldelserne er hentet fra store tyske avisers litteraturtillæg.
fredag den 16. april 2010
Unser Leben ist nicht linear
Péter Esterházy zum Sechzigsten
Unser Leben ist nicht linear
Von Tilman Spreckelsen
Verleibt sich ausgiebig fremde Texte ein: Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy
14. April 2010 „Der Mensch des Abendsterns ist ein sehr weicher Mensch, zweifelt in der Hauptsache, zweifelt dort, wo er nicht sollte, sägt an dem Ast, auf dem er sitzt. Er sägt und pflanzt, er sägt und pflanzt“ - das ist eine der Deutungen, die Péter Esterházy seinem Familiennamen abgewinnt, denn der sei von „esthajnal csillag“ abgeleitet, dem Abendstern.
Und natürlich wäre diese Passage in seinem großen panoramatischen Roman „Harmonia Caelestis“ ein exzellenter Ausgangspunkt, um über den Familiennamen gleich die ganze Sippe, um die es hier geht, zu fassen zu kriegen, den Autor vorneweg - wenn sich nicht in diesem neunhundert Seiten langen Geflecht aus Geschichten und Kurzessays, Schnappschüssen und Langzeitbelichtungen der europäischen wie der Esterházy-Geschichte eine ganze Heerschar von konkurrierenden Hebelpunkten anböte.
Das Individuum als Sammelbegriff
Denn wo der eine „abendliche“ („esti“) Mensch zweifelt, zeigt sich der nächste unerhört grausam oder gegenüber seinem Nächsten gallig bis über beide Ohren oder tritt gar aus der mitteleuropäischen Geschichte heraus und ins Reich der Mythen ein, wenn er unversehens als Ödipus, Ewiger Jude oder als Schrödingers Katze fungiert - selbst wenn sie alle in diesem Roman als „mein Vater“ bezeichnet werden und so aus der eindeutigen Bezeichnung eines Individuums ein Sammelbegriff wird.
Vor allem aber ist der Abendstern keineswegs die einzige Quelle, die der studierte Mathematiker Esterházy zur Etymologie des Familiennamens in seinem Opus magnum „Harmonia Caelestis“ nennt. Nicht nur sie passt sich dem jeweiligen erzählerischen Umfeld an. Und der Autor, seit je ein erklärter Gegner linearen Erzählens, weil „unser Leben nicht linear ist“, verleibt sich derart ausgiebig Texte fremder Provenienz ein, dass für deren Nachweis im Materialienband zum Roman acht kleinbedruckte Seiten notwendig sind, von Mona Abaza („The changing image of women in rural Egypt“) über Ernst Jünger („Das abenteuerliche Herz“) bis Conrad Ziegler („Goethes Vater als Erzieher“).
Verrutsche Spiegelbilder
Das Verfahren, für das der 1950 geborene Esterházy im Laufe seiner Autorenlaufbahn unterschiedliche Grade der Offen legung entwickelt und das er oft genug reflektiert verteidigt hat, zeitigt auch ganz unterschiedliche Ergebnisse - in seiner „Einführung in die schöne Literatur“ (1986) etwa sind sie zu besichtigen, beispielsweise im Kapitel „Indirekt“, wo die jeweiligen Urheber des aus Zitaten montierten Textes in den Randspalten nachgewiesen werden. Im selben Buch erscheint auch die Erzählung „Paulina“ des ungarischen Klassikers Dezsö Kosztolányi neben einer wie ein verrutschtes Spiegelbild wirkenden, leicht veränderten Version Esterházys (so dass man es in der deutschen Ausgabe mit einem Panorama von insgesamt vier Fassungen zu tun hat, zwei ungarischen und zwei deutschen), während in „Harmonia Caelestis“ die ursprünglich fremden Passagen geradezu amalgamiert werden.
Ans andere Ende dieser Skala könnte man Esterházys hingebungsvolle private Kärrnerarbeit am bewunderten Roman „Die Schule an der Grenze“ von Géza Ottlik plazieren - Esterházy schrieb das 500-Seiten-Werk einst Wort für Wort mit der Hand ab, auf einen einzigen Bogen Papier, der am Ende wegen der vielfachen Überschreibung schier unlesbar geworden war (auch dies findet sich als Faksimile in der „Einführung in die schöne Literatur“).
Ein Sohn, zu Tränen gerührt
„Mal schreibe ich Ottlik ab, mal dieses hier, meine Spannbreite ist groß“, notiert Esterházy, als er sich Anfang 2001 daranmacht, die Berichte zu lesen, die sein Vater an den ungarischen Geheimdienst geliefert hatte. Die Vielstimmigkeit des damals gerade beendeten Romans „Harmonia Caelestis“ scheint im aus der Aktenlektüre entstehenden Band „Verbesserte Ausgabe“ auf ein dissonantes Trio geschrumpft: Auszüge aus den Texten des Vaters, die Kommentare der Geheimdienstmitarbeiter und schließlich die Reaktion des fassungslosen, immer wieder zu Tränen gerührten Sohnes, der auch sein eigenes Werk neu lesen muss, das mit dem mittlerweile berühmten Satz beginnt: „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt.“
Denn dort geht es um „meinen Vater“, der mürrisch kund tut, dass es in der Familie niemals Verräter gegeben hätte, oder der im Alter von zwölf Jahren ein Notizbuch für die großen moralischen Fragen anlegt und schon wenig später beginnt, „das Notizbuch zu suchen und zu suchen und zu suchen.“
Absage an den sozialistischen Realismus
Aus der persönlichen Tragödie wird ein hellsichtiger, mitunter kalter und gleichzeitig berührender Bericht über die Verstrickung des Vaters. Und nebenbei ein Werk, das Esterházys Credo unterstreicht, „dass die Bücher einander helfen“, wenn man sie denn lässt, wenn man sie also in Bezug zueinander setzt - Esterházys literarischen Erstling „Fancsikó und Pinta“ (1976) etwa wird man immer mit großem Vergnügen lesen, man wird die Artistik des Autors bewundern oder die besondere Perspektive des kindlichen Erzählers an der Hand seiner rotzfrechen imaginären Freunde, aber man wird auch die dort geschilderte Familie mit den Augen dessen betrachten, der die Vatersuche in „Harmonia Caelestis“ und „Verbesserte Ausgabe“ wahrgenommen hat. Und umso aufmerksamer registrieren, wie die Gestalten Fancsikó und Pinta ausgerechnet in einem Moment höchster Furcht erstmals in Erscheinung treten.
Dass Esterházys fulminante ästhetische Absage an die Untiefen des sozialistischen Realismus für die ungarische Literatur bahnbrechend gewirkt hat, ist die eine Seite. Dass er sich in eine andere literarische Tradition Ungarns gestellt hat, in der für ihn der „Kornél Esti“-Autor Kosztolányi eine wesentliche Rolle spielt, ist die andere. Zu Stundentenzeiten hätten seine Freunde ihn „Esti“ genannt, schreibt Esterházy im Nachwort zu Kosztolányis Novellensammlung, und diese neuerliche Ausdeutung des Familiennamens, meint der mit europäischen Literaturpreisen geradezu überhäufte Autor, sei „bisher meine größte Auszeichnung“. Heute feiert Péter Esterházy seinen sechzigsten Geburtstag.
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: ddp
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