søndag den 15. maj 2016

Don deLillo

„Zero K“ von Don deLillo Die kalte weiße Stille
Don DeLillo, der amerikanische Schriftsteller und Spezialist für Zeitdiagnostik, hat einen neuen Roman geschrieben. „Zero K“ handelt von Tod und Unsterblichkeit und von Menschen, die sich einfrieren lassen, weil sie wiederauferstehen wollen.
von
© AP Sibirien sei dazu gemacht, um solche Dinge aufzufangen, heißt es in DeLillos Roman. Der Kondensstreifen eines Meteors über der Stadt Tscheljabinsk im Ural. Der Einfall fand am 15. Februar 2013 statt, von den Folgewirkungen wurden mehr als 1500 Menschen verletzt.
Es gibt eine Welt nach der Welt, und wenn das auch unser Vorstellungsvermögen überfordern mag, weil wir kein Paradies voller Jungfrauen vor uns sehen, weil wir auch die vagen Tröstungsangebote und Heilsversprechen der anderen Weltreligionen längst im Museum der interessanten Gedanken abgelegt haben, wenn wir also überhaupt noch etwas über das Nachleben oder die Unsterblichkeit lesen wollen, dann könnte man sich dafür keinen besseren Autor wünschen als Don DeLillo.
Von ihm stammen Romane, ohne die man das Amerika, ach was: die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger klar und scharf sehen würde. „Unterwelt“ oder „Sieben Sekunden“ oder „Weißes Rauschen“, um nur ein paar zu nennen.
Nun scheint dieser Don DeLillo auf einmal, mit fast 80 Jahren, einen Science-Fiction-Roman zu schreiben, zumindest ein Buch, das mit ein paar Elementen des Genres spielt. „Zero K“ ist sein 16. Roman, und natürlich bestätigt auch er, was sich in „Weißes Rauschen“ so wunderbar zweideutig formuliert findet: Dass alle Plots zum Tod tendieren, wobei Plot eben nicht nur Handlung bedeutet, sondern auch Verschwörung.
Im Titel „Zero K“ liegt bereits der Hinweis auf ein Verfahren. Der Begriff bezeichnet den absoluten Nullpunkt, null Kelvin, den Grenzwert, der von Physikern bei -273,15 Grad Celsius fixiert wurde. Und all jene, die ihren Körper in flüssigem Stickstoff einfrieren lassen, weil sie hoffen eines Tages aus dem Kälteschlaf aufzuerstehen, werden nun zwar nicht bei Null Kelvin konserviert, aber immerhin bei -196 Grad.
Das klingt wie eine Fiktion, wie ein gern benutztes Motiv von Schriftstellern oder Drehbuchautoren, die auch schon Sylvester Stallone in „Demolition Man“ oder Mel Gibson in „Forever Young“ eingefroren haben, die Tom Cruise in „Vanilla Sky“ in den Kälteschlaf versetzten oder Reisende in ferne Galaxien wie in „Avatar“ oder „Interstellar“.

Einfrieren für das ewige Leben

Fiktion ist daran allerdings nur die Annahme, dass dieses Verfahren funktionieren könnte. Tatsache ist, dass sich mehr als 250 Menschen in den Vereinigten Staaten in flüssigem Stickstoff haben konservieren lassen, manche Optimisten auch nur Kopf und Hirn; ein paar Dutzend sind in Russland schockgefrostet, und wenn in Deutschland nicht die gesetzlichen Grundlagen dafür fehlten, gäbe es mit Sicherheit auch zahlreiche Aspiranten, die sich in Kryostase begeben würden, wie sich dieser Schritt nennt, weil sie sich nach dem ewigen Leben sehnen.
Bei Don DeLillo ist es ein Finanztycoon namens Ross Lockhart, der viel Geld in ein Projekt namens „The Convergence“ investiert hat, das irgendwo in der kasachischen Wüste liegt. Die nächste Stadt, heißt es einmal vage, sei wohl Bischkek in Kirgistan.
Lockhart, der vom unaufhaltsamen Fortschritt der Kryonik überzeugt ist, will seine schwerkranke zweite Frau dort sterben und konservieren lassen, und er ringt zugleich mit der Entscheidung, sie sofort in den Tod zu begleiten, der in dieser Logik nur Vorstufe zu Wiederauferstehung und Unsterblichkeit ist. Lockharts Motivation, die Geschäftstüchtigkeit mit etwas Altruismus vereint, spricht schon aus dem ersten Satz von „Zero K“: „Jeder will das Ende der Welt besitzen.“

Wem gehört das Ende der Welt?

Doch Ross Lockhart ist nicht der Erzähler, sondern sein Sohn Jeffrey, dessen Verhältnis zum Vater angespannt ist, da dieser die Familie verließ, als Jeffrey 13 Jahre alt war. Ross lässt ihn aus New York einfliegen, und gleich auf den ersten Seiten, in der Beschreibung der Bauten mitten im Nirgendwo, ist er da, dieser typische Sound von Don DeLillo.
„Ich stellte es mir als eine Stadt vor, die erst in der Zukunft entdeckt werden sollte“, sagt Jeffrey über die Anlage der „Convergence“, „versteckte Häuser, agoraphobisch abgedichtet. Es waren blinde Häuser, düster und gedämpft, die Fenster unsichtbar, dazu gemacht, sich selbst zusammenzufalten, sobald der Film den Moment des digitalen Absturzes erreicht.“
Den Konflikt zwischen Vater und Sohn hat DeLillo auch als Konflikt zwischen dem Glauben an die mit wissenschaftlichen Methoden erreichbare Unsterblichkeit und der humanen Skepsis inszeniert, die sich lakonisch in dem Satz ausdrückt: „Was soll das Leben, wenn wir nicht an seinem Ende sterben?“
Es geht also um die letzten Dinge, um die metaphysischen Restbestände, welche sich nicht einfach auflösen im Licht wissenschaftlicher Erkenntnisse. Und die großen Fragen spiegeln sich bei DeLillo immer auch in den kleinen hochauflösenden Alltagsbeobachtungen, in den ephemeren Erscheinungen der populären Kultur.
In Vignetten über die Funktionsweise eines Geldautomaten oder die Art und Weise, wie man Blickkontakt mit Obdachlosen in der U-Bahn vermeidet, steckt auch eine Stück Zeitdiagnostik.
65th Cannes Film Festival - Cosmopolis Press Conference © dpa Vergrößern Don DeLillo
Jeffrey streift durch die Flure und seltsamen Räume der „Convergence“ und kommentiert die Sentenzen der Verantwortlichen, die von „life extension“ reden, was klingt wie die beliebten „hair extensions“. Der Tod wird hier als „kulturelles Artefakt“ betrachtet, als „eine Gewohnheit, mit der sich schwer brechen lässt“. Jeffrey spricht mit Artis, der zweiten Frau seines Vaters, die beim Wiedererwachen auf „eine neue Wahrnehmung der Welt“ hofft, und er schaut ihr beim Sterben zu.

Im Wartesaal des Todes

DeLillo durchschießt diesen ersten Teil des Romans immer wieder mit kleinen Rückblenden in Jeffreys Kindheit; verblasste Erinnerungen an die Mutter und an den Vater, der sich neu erfand, indem er seinen alten Namen Nicholas Satterswaite aufgab und sich knapp und amerikanisch-kernig Ross Lockhart nannte. In der weltfernen Atmosphäre der „Convergence“, in diesem komfortablen Wartesaal des Todes überlässt sich Jeffrey seiner Obsession, Menschen Namen zu geben, die ihnen entsprechen, oder Dinge zu definieren, als hinge deren Existenz davon ab.
Je länger Jeffrey sich an diesem Unort aufhält, desto weniger vertraut, desto unwirklicher erscheint er ihm. Er unterhält sich mit einem seltsamen gefallenen Mönch über den Weltuntergang, und als Jeffrey den Meteor erwähnt, der im Februar 2013 über der Stadt Tscheljabinsk im Ural niederging, sagt sein Gegenüber nur, Sibirien sei dazu da, „um diese Dinge aufzufangen“.
Der rastlose Sohn bleibt vor den großen Bildschirmen stehen, die sich von der Decke herabsenken, und schaut auf Katastrophenbilder ohne Ton: Überflutungen, Tsunamis, ausbrechende Vulkane, verheerende Brände und geplünderte Städte, kriegerische Auseinandersetzungen, Leichname, über denen die Geier kreisen.
In einem Garten trifft er einen steinalten Mann, der vom „Transrationalen“ schwärmt, und überall sieht er unbekleidete Schaufensterpuppen, die den eingefrorenen Menschen in den Gefäßen gleichen – und umgekehrt. Das alles steigert nur seine Abscheu vor dieser „kühlen, weißen Stille“.

Monolog aus dem Zwischenreich

Zwischen die beiden Teile des Romans hat DeLillo so etwas wie einen inneren Monolog gesetzt: „Artis Martineau“ ist er überschrieben, so als gäbe es eine Aufzeichnung aus diesem Zwischenreich des Kälteschlafs, als wäre da etwas nach dem Sterben, das weder Leben ist noch Tod; als wäre Artis wie Schrödingers Katze in der Quantenmechanik: gleichzeitig lebendig und tot.
Erste und dritte Person Singular fallen ineinander: „Sie ist nichts als Wörter, aber sie weiß nicht, wie sie aus den Wörtern heraus jemand werden, wie sie eine Person werden kann, die die Wörter kennt.“ Es ist ein eigenartiger Text, rätselhafter als alles, was Don DeLillo je geschrieben hat, von ferne allenfalls zu vergleichen mit der Erzählperspektive in „Body Artist“.
Es ist ohnehin viel Vintage Don DeLillo in „Zero K“. Die Manie der Namensgebung gehört dazu, ein Augustinus-Zitat aus „Americana“ begegnet einem wieder, die Monitore erinnern an die Videoinstallation des Zapruder-Films in „Unterwelt“, der Meteor von Tscheljabinsk an den Tunguska-Asteroiden von 1908, der in Thomas Pynchons „Gegen den Tag“ eine Rolle spielt. Man könnte diese Liste fast beliebig verlängern.
Samenspende © dpa Vergrößern Hier wird nur eine Samenprobe schockgefrostet, in DeLillos Roman wird der ganze menschliche Körper mittels einer Kryokonservierung in flüssigem Stickstoff bei -196 Grad Celsius gelagert.
Entscheidender ist jedoch die Frage, ob das Recycling ist, ein Zeichen von Ermüdung, oder ob daraus etwas Neues entsteht, ob die alten Techniken, Anspielungen und Stilmittel immer noch die Physiognomie einer neuen Welt sichtbar machen oder sogar etwas vorwegnehmen, wie das in den größten Momenten der früheren Romane geschah.

Die Kunst des Recyclings

Leicht zu beantworten ist das nicht. Jeffrey zumindest hat noch den alten Blick des DeLillo-Helden. Man sollte sich dabei nicht täuschen lassen von der ersten Person Singular, weil DeLillo sich nie in die Psychologie seiner Figuren versenkt hat; es ist eher so, dass die Gedanken und die Assoziationen einer Figur dieser oft gar nicht allein zu „gehören“ scheinen. Sie sind, in den klingenden Reihungen, in den aphoristischen Zuspitzungen eher Stilmittel DeLillos.
Das war schon so bei Jack Gladney in „Weißes Rauschen“ oder erst recht bei dem eremitischen Schriftsteller Bill Gray in „Mao II“. Auch Jeffrey Lockhart ist in der Welt, und die Welt ist auf Distanz, wie durch eine Milchglasscheibe scheint er sie zu betrachten. Seine Beziehung zu seiner Freundin Emma, die erst im zweiten Teil auftaucht, hat etwas Lethargisches, sie wird einfach versickern im Laufe der Erzählung, als wolle Jeffrey nicht kämpfen, als sei er gelähmt von seiner Vergangenheit, von dem Vater, an dem er sich abarbeitet.
Er lehnt jeden Job ab, den der Vater anbietet, er heuert an einem kleinen College in Connecticut als „Compliance and ethics officer“ an, als eine Art Beauftragter für ethisches Geschäftsverhalten und Befolgung von Regeln. Aber er reist noch einmal in die kasachische Wüste, als Sterbebegleiter für den Vater, der, obwohl völlig gesund, von der Trauer um Artis und von der Idee seiner Wiederauferstehung so überwältigt ist, dass er es nicht abwarten kann.
Hingerissen von einem Phantasma, das seine Sterbehelferin mit dem schwülstigen Pathos aller Propheten formuliert: „Sie stehen völlig außerhalb jenes Narrativs, das wir als Geschichte bezeichnen.“ All diese Motive, Metaphern und Gedankenfiguren sind zu diesem Zeitpunkt jedoch längst durchgespielt, nicht ohne Redundanz, mitunter ungewohnt plakativ und ziemlich explizit für DeLillo.

Sterben als bizarre Kunstaktion

Was allerdings auffällt, was die Originalität dieses Romans ausmacht, das ist, wie sich diese Welt der Kryostase, die Jeffrey durchwandert, unter DeLillos Blick mehr und mehr in eine bizarre, unerhörte Kunstaktion zu verwandeln scheint, welche die Trennung von Kunst und Leben verwischt.
DeLillo hat immer schon ein Gespür für die besonderen Wege und Grenzüberschreitungen der modernen Kunst gehabt, ob er nun über Gerhard Richters Baader-Meinhof-Zyklus schrieb oder über einen Flugzeugfriedhof als Kunstinstallation in „Unterwelt“.
Die Schaufensterpuppen in „Zero K“ bündeln Echos von de Chirico und Man Ray bis zu Cindy Shermans „Sex Pictures“, der riesige Totenschädel in einem Saal der „Convergence“ könnte auch von Damien Hirst stammen; Artis redet von Land Art und Jeffrey von Body Art, wie sie als „eine Form visionärer Kunst“ in jenen Behältern auftaucht, in denen die ganzkörperrasierten Schockgefrorenen auf ihr Erwachen warten.
Von all dem geht noch immer eine Faszination aus, von dieser präzisen, kristallinen Sprache, von diesem unverwechselbaren Sound; aber es ist nicht mehr der unwiderstehliche Funke, der überspringt, es ist nicht mehr der Sog, den die Romane früher erzeugten.
 
Dass einer mit fast 80 Jahren schon mal über mögliche Welten nach der Welt nachdenkt, dass ihn das Ungenügen an der Endlichkeit mehr umtreibt als etwa der Terror des IS oder das Universum von Big Data, ist nun aber verständlich. Auch Clint Eastwood hat sich schließlich in „Hereafter“ (2010) mit dem Jenseits im Diesseits befasst.
Und Don DeLillo hat für das Ende von „Zero K“ dann auch einen schönen, epiphanischen Augenblick gefunden. Während einer Busfahrt durch Manhattan, von Westen nach Osten, beobachtet Jeffrey durchs Heckfenster den Sonnenuntergang und erlebt, was in Manhattan wohl ein oder zwei Mal im Jahr passiert: Dass „die Sonnenstrahlen mit dem Gitternetz der Straßen zur Deckung kommen“. Und das ist dann wieder fast so großartig wie das Wort „Peace“ am Ende der fast eintausend Seiten „Unterwelt“.

F.A.Z.                                 

 

Ingen kommentarer:

Send en kommentar