søndag den 15. maj 2016

Kazuo Ishiguro

Neuer Roman von Kazuo Ishiguro Im Nebel wandern, um zu verdrängen
Der neue Roman von Kazuo Ishiguro sprengt alle Gattungsgrenzen: „Der begrabene Riese“ ist phantastisch unterhaltsam und historisch relevant. Er wagt es, das Vergessen zu verteidigen.
von Daniel Kehlmann
© Andrew Testa Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, lebt in England.
Manchmal könnte man eine Buchbesprechung kurz halten. Man müsste dann nur darauf hinweisen, dass man über einen bestimmten Roman am besten gar nichts wissen sollte, bevor man ihn liest. In Kazuo Ishiguros „Der begrabene Riese“ liegt die Welt unter einem sich allmählich lichtenden Nebel, und ebendas ist auch sein Kompositionsprinzip: Für sich selbst allmählich herauszufinden, was hier eigentlich verhandelt wird, bildet das eigentliche Erlebnis dieser Lektüre. Wer also dem Rezensenten vertraut, sollte die Rezension an dieser Stelle beenden und lieber gleich „Der begrabene Riese“ lesen.
Wer aber trotz dieser Warnung unbedingt mehr wissen will, zum Beispiel weil er längst beschlossen hat, dass er ohnehin kein Buch anrühren würde, in dem Drachen und magische Nebel vorkommen, dem kann man natürlich Auskunft geben. Man könnte so jemandem gleich erklären, dass „Der begrabene Riese“ ein Ausflug des Autors von „Was vom Tage übrig blieb“ und „Alles was wir geben mussten“ in das Genre der Fantasyliteratur ist.

Auf der Suche nach dem Drachen

Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn „Der begrabene Riese“ ist exakt an der Übergangsstelle zwischen historischem und phantastischem Erzählen angesiedelt, im England des sechsten Jahrhunderts. Aus dieser Epoche ist so gut wie nichts bekannt. Nach dem Abzug der Römer verfiel die Zivilisation auf den Britischen Inseln fast vollständig, die größeren Siedlungen wurden zu unbewohnten Ruinenstädten, und für fast dreihundert Jahre liegen so gut wie keine Aufzeichnungen vor - nirgendwo ist der Begriff dark ages so angebracht. Ein Roman, der in dieser Zeit spielt, ist also naturgemäß auf Phantasie angewiesen, und wer sich auf das Weltbild der Menschen der Epoche ernsthaft einlässt, muss von Geistern, Dämonen und archaischen Naturwesen erzählen. In einer von solchen Wesen erfüllten Welt bricht also das alte Ehepaar Axl und Beatrice auf, um ihren Sohn zu finden, der vor Zeiten die kleine Siedlung verlassen hat und nie zurückgekommen ist.
                
Aber ein Nebel liegt auf dem Land, den keine Sonne durchdringt, und er bewirkt Vergessen. Haben die beiden wirklich einen Sohn gehabt? Ganz sicher sind sie nicht. Und wenn ja, wo ist er eigentlich hin? Verschwommen erinnern sie sich, dass etwas passiert ist, aber sie vermögen nicht, der Sache auf den Grund zu gehen. Verwirrt ziehen sie von Siedlung zu Siedlung, immer in Angst vor jenen Wesen, die nachts die Wälder unsicher machen, und treffen Menschen, die wie sie verwirrt, verloren, ohne Gedächtnis sind. Sie treffen auch einen alten Ritter, der behauptet, Gawain zu heißen, vor Zeiten dem großen Artus gedient zu haben und auf der Suche nach einem Drachen zu sein, der schuld an dem Nebel, dem Vergessen und der Misere ist, die das Land befallen hat.

Reich, vieldeutig und rätselhaft wie ein Traum

So weit, so spannend, aber das Grandiose ist, wie Ishiguros Roman alle Gattungsgrenzen sprengt und das, was gerade noch sicher schien, nach und nach fraglich macht. Denn der Ritter, der den Drachen töten will, will womöglich in Wahrheit etwas anderes, und Axl, der einfache Alte, der von großen Dingen nichts weiß, ist womöglich das Gegenteil von dem, was er scheint, und sogar mit dem Drachen, der in einer kurzen Szene wirklich sichtbar wird, verhält es sich offenbar ganz anders. Vor allem aber ist der die Erinnerungen löschende Nebel womöglich nicht der Fluch, als der er zu Beginn erschienen ist. Aber ist es nicht ein Axiom, dass Literatur für die Erinnerung und gegen das Vergessen steht? Wer würde es wagen, diesem Satz zu widersprechen und das Vergessen zu verteidigen?

Nun, Ishiguros Roman wagt es. Sehr spät erst findet der Leser heraus, dass vor nicht allzu langer Zeit ein Bürgerkrieg stattgefunden hat und dass all die verlorenen Menschen Überlebende sind. Der große Nebel war für sie kein Fluch, er hat ihnen vielmehr das Weiterleben ermöglicht; nur dadurch, dass sie die Schrecken, die sie ihren Nachbarn und diese ihnen angetan haben, völlig vergessen haben, war es ihnen möglich, nebeneinander weiterzuleben. Wird nun, da dieser Nebel sich lichtet, die Wahrheit sie frei machen, oder wird sie vielmehr neue Grausamkeiten, neues Blutvergießen und neue Schrecken bringen? Nietzsches These, dass jede Zivilisation auf verdrängter Barbarei aufbaut, bekommt bei Ishiguro neue Dringlichkeit - der begrabene Riese des Titels ist kein Fabelwesen, sondern eine Metapher für verdrängtes Blutvergießen -, und die Frage, ob eine Gesellschaft Täter lieber verfolgen oder vergessen und weitermachen soll, als wäre nichts geschehen, rückt plötzlich in den Mittelpunkt eines Romans, der doch gerade noch so weit entfernt von unseren Tagen zu spielen schien.

Versteckt auf Bestsellerlisten

Aber „Der begrabene Riese“ ist keine Allegorie - im Gegenteil, der Roman ist reich, vieldeutig und so rätselhaft wie ein Traum, und seine Figuren sind keine Marionetten, sondern psychologisch komplex und widersprüchlich. Das gilt besonders für den Ritter Gawain, zunächst scheinbar ein Wiedergänger des Ritters von der traurigen Gestalt, in Wahrheit aber der klarste Geist von allen. Am meisten aber gilt es für die beiden Alten, Axl und Beatrice, die nach einem Leben in tiefster Verbundenheit herausfinden müssen, dass auch ihre Erinnerung sie womöglich getäuscht hat und dass nicht nur der Staat, sondern auch die Liebe nach ständigem Vergessen und immer neuen Lügen über die Vergangenheit verlangt. Aber sobald die beiden, und mit ihnen der Leser, das begriffen haben, sind sie auch schon im letzten Kapitel und in der seltsamsten und schönsten Todesszene angelangt, die es in der Weltliteratur der letzten Jahre gegeben hat. Ja, verlangt das Klischee denn nicht auch, dass Liebe stärker sein muss als der Tod? Bei Ishiguro ist das umgekehrt, und der simple Umstand, dass jeder Charons Boot allein besteigen muss, führt zu einer Schlussszene, auf die man wohl ausnahmsweise und in aller Vorsicht das überbeanspruchte Wort „unvergesslich“ anwenden kann.
Leider kann man aber auch getrost voraussagen, dass so manche Leser, die dieses Meisterwerk schätzen könnten, einen Bogen darum machen werden, weil sie nun einmal beschlossen haben, dass sogenannte Fantasy unter ihrer Würde ist. Sei’s drum, es ist ihr eigener Verlust. Sie werden nie erfahren, was sie versäumen, und „Der begrabene Riese“ wird, wie schon einst „Der Herr der Ringe“, als Geheimtipp auf die Bestsellerlisten verschwinden.
Quelle: F.A.Z.

Apokalyptischer Gottesstaat

Bigaye beobachtet Euch!
George Orwell reloaded: In „2084 - Das Ende der Welt“ entwirft Boualem Sansal die Vision einer religiösen Diktatur. Dystopischer Horror, der leider vor dem Schrecken der Gegenwart verblasst.
von

© Wonge Bergmann „Die Angst ist mein größter Feind“: Der weiterhin in Algier lebende Boualem Sansal, Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.
Boualem Sansal riskiert viel. Seit Jahren warnt der algerische Schriftsteller in Büchern und Reden vor dem Vormarsch des Islamismus. Er kritisiert die religiösen Eiferer in der arabischen Welt und das „ohrenbetäubende Schweigen“ muslimischer Intellektueller. Wie der Glaube zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden kann, konnte der 1949 in Téniet el Had geborene Ökonom aus der Nähe studieren. Zwischen 1992 und 2006 führten in seiner Heimat bewaffnete Islamisten und die Armee einen brutalen Krieg, dem viele zehntausend zum Opfer fielen. Die Angst sei sein größter Feind, sagt Sansal, der trotz der Gefahr noch immer bei Algier lebt und anders als viele Kollegen nicht nach Paris emigrierte. Für seinen Mut wurde er unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Groß waren deshalb die Erwartungen an seinen neuen Roman, von dem sich bald herumsprach, er setze sich wie schon frühere Werke Sansals mit religiösem Fanatismus auseinander. Als er voriges Jahr schließlich auf Französisch erschien, avancierte „2084“ zum meistdiskutierten Buch der Rentrée 2015. Heftig diskutiert auf allen Kanälen, verkaufte sich dieser Gruselbericht über das fiktive Land Abistan fast dreihunderttausendmal. Jetzt ist „2084 - Das Ende der Welt“ in der Übersetzung von Vincent von Wroblewsky auch auf Deutsch zu lesen.

Aus „Big Brother“ wird „Bigaye“, aus „Neusprech“ „Abilang“

Der in vier Bücher und einen Epilog unterteilte Roman begleitet den lungenkranken Mittdreißiger Ati, der nach einem Sanatoriumsaufenthalt im entlegenen Ouâ-Gebirge in seine Heimatstadt zurückkehrt und dort plötzlich begreift, dass er tatsächlich in einem Gefängnis lebt. Abistan heißt dieses „Land der Gläubigen“, das in einer unbestimmten Zukunft aus den Trümmern des „Großen Heiligen Krieges“ hervorging und dem allmächtigen Gott Yölah huldigt. Dessen Statthalter auf Erden ist Abi. Zwar hat kein Abistaner diesen „höchsten Führer der Welt“ je gesehen. „Ihn dem Blick des gemeinen Mannes auszusetzen war undenkbar“, weiß der Erzähler zu berichten. Doch soll Abi, munkelt man, einäugig sein und außerdem unsterblich. Abgeschirmt von der Welt, lebt er angeblich in einem Palast, der von Männern kontrolliert wird, denen bei der Geburt das Gehirn entfernt wurde. Jede menschliche Regung ist ihnen fremd, ihre Grausamkeit kennt keine Grenzen.
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Überhaupt wacht der Staatsapparat mit unerbittlicher Härte über seine Bürger. Die drei Leitsätze der Regierung lauten: Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei und Unwissenheit Stärke. Schon mit dem Titel zeigt Sansal, an wem sich sein Tableau einer totalitären Gesellschaft orientiert: an Orwells Roman „1984“, der, 1948 unter dem Eindruck von Nationalsozialismus und Stalinismus entstanden, zum Kanon der Weltliteratur zählt. Anspielungen auf Orwells Überwachungsstaat, der seine Untertanen bis in ihre geheimsten Gedanken kontrolliert, finden sich bei Sansal zuhauf. Das Orwellsche „Neusprech“ heißt hier Abilang. Die Nachfahren des Großen Bruders sind „V“ genannte Wesen, die sich auf die Kunst der Telepathie verstehen und das Land unablässig nach Lügnern abscannen. „Big Brother is watching you“ lautet der eine Satz bei Orwell, den wohl jedes Schulkind kennt: „Bigaye beobachtet Euch!“, heißt es bei Sansal.

Horror der Gegenwart

In dieser buchstabengetreuen Übernahme liegt eines der Probleme von „2084“, schon allein deshalb, weil Orwell heute als Metapher für nahezu jede kulturpolitische Debatte von der Datenüberwachung bis zur Diktatur herhalten muss. Boualem Sansal buchstabiert seine Parabel indes mit grimmiger Wut eins zu eins durch. Das führt dazu, dass seine Figuren, allen voran Ati, kaum Kontur erhalten. Weil sie von ihrem Erzähler zu sehr dafür in Anspruch genommen werden, bestimmte Haltungen und Meinungen zu transportieren. Wie aber lässt sich der Welt von heute mit Google und „Islamischem Staat“ und all den daraus entstehenden Herausforderungen literarisch überhaupt beikommen?
           
Michel Houllebecq wählte dafür in seinem ebenfalls 2015 in Frankreich erschienenen Roman über einen französischen Gottesstaat die Mittel des Zynismus und der Komik. Wenn er sich etwa über die schwächlichen Pariser Intellektuellen lustig macht, die sich mit dem totalitären System durchaus arrangieren können, liest sich „Unterwerfung“ streckenweise wie eine abgründige Komödie. Bei Sansal gibt es keine Zwischentöne und auch keine Transformation. Das Böse ist längst da und etabliert, es ist allgegenwärtig. Die Männer tragen Bärte, die Frauen Schleier und bodenlange Burniqabs, gebetet wird neunmal am Tag. Gepredigt werden Geduld, Gehorsam und Unterwerfung, Museen sind verboten, ebenso Musik und Literatur. Die einzige erlaubte Schrift ist das heilige Buch Gkabul, zu Deutsch: Zustimmung.
Wer die Gesetze missachtet, seine Nachbarn nicht ausspioniert, seine Kinder nicht züchtigt oder öffentliche Hinrichtungen schwänzt, wird vom Komitee für Moralische Gesundheit aufs grausamste bestraft. Deshalb befindet sich auch Ati bald schon auf der Flucht. Denn einmal mit dem Gedanken der Freiheit infiziert, entlarvt er Schritt für Schritt das politische System als riesiges Lügengespinst: Abistans Religion ist Fiktion, ausgedacht von zynischen Clans, die sich in einem erbitterten Machtkampf befinden. Woher allerdings dem schüchternen Ati in einer Welt der totalen Kontrolle ein Gedanke wie Freiheit überhaupt in den Sinn kommt, bleibt ungeklärt. Boualem Sansal will dem Horror der Gegenwart mit seiner apokalyptischen Vision literarisch entgegentreten. Das ist gerade bei einem so kenntnisreichen Autor wie ihm allemal legitim. Doch das böse Märchen verblasst vor einer Wirklichkeit, die längst ihre eigenen Dystopien schreibt.

Boualem Sansal: „“2084 - Das Ende der Welt“. Roman. Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Merlin Verlag, Gifkendorf-Vastorf 2016. 288 S., geb., 24,- €.

Don deLillo

„Zero K“ von Don deLillo Die kalte weiße Stille
Don DeLillo, der amerikanische Schriftsteller und Spezialist für Zeitdiagnostik, hat einen neuen Roman geschrieben. „Zero K“ handelt von Tod und Unsterblichkeit und von Menschen, die sich einfrieren lassen, weil sie wiederauferstehen wollen.
von
© AP Sibirien sei dazu gemacht, um solche Dinge aufzufangen, heißt es in DeLillos Roman. Der Kondensstreifen eines Meteors über der Stadt Tscheljabinsk im Ural. Der Einfall fand am 15. Februar 2013 statt, von den Folgewirkungen wurden mehr als 1500 Menschen verletzt.
Es gibt eine Welt nach der Welt, und wenn das auch unser Vorstellungsvermögen überfordern mag, weil wir kein Paradies voller Jungfrauen vor uns sehen, weil wir auch die vagen Tröstungsangebote und Heilsversprechen der anderen Weltreligionen längst im Museum der interessanten Gedanken abgelegt haben, wenn wir also überhaupt noch etwas über das Nachleben oder die Unsterblichkeit lesen wollen, dann könnte man sich dafür keinen besseren Autor wünschen als Don DeLillo.
Von ihm stammen Romane, ohne die man das Amerika, ach was: die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger klar und scharf sehen würde. „Unterwelt“ oder „Sieben Sekunden“ oder „Weißes Rauschen“, um nur ein paar zu nennen.
Nun scheint dieser Don DeLillo auf einmal, mit fast 80 Jahren, einen Science-Fiction-Roman zu schreiben, zumindest ein Buch, das mit ein paar Elementen des Genres spielt. „Zero K“ ist sein 16. Roman, und natürlich bestätigt auch er, was sich in „Weißes Rauschen“ so wunderbar zweideutig formuliert findet: Dass alle Plots zum Tod tendieren, wobei Plot eben nicht nur Handlung bedeutet, sondern auch Verschwörung.
Im Titel „Zero K“ liegt bereits der Hinweis auf ein Verfahren. Der Begriff bezeichnet den absoluten Nullpunkt, null Kelvin, den Grenzwert, der von Physikern bei -273,15 Grad Celsius fixiert wurde. Und all jene, die ihren Körper in flüssigem Stickstoff einfrieren lassen, weil sie hoffen eines Tages aus dem Kälteschlaf aufzuerstehen, werden nun zwar nicht bei Null Kelvin konserviert, aber immerhin bei -196 Grad.
Das klingt wie eine Fiktion, wie ein gern benutztes Motiv von Schriftstellern oder Drehbuchautoren, die auch schon Sylvester Stallone in „Demolition Man“ oder Mel Gibson in „Forever Young“ eingefroren haben, die Tom Cruise in „Vanilla Sky“ in den Kälteschlaf versetzten oder Reisende in ferne Galaxien wie in „Avatar“ oder „Interstellar“.

Einfrieren für das ewige Leben

Fiktion ist daran allerdings nur die Annahme, dass dieses Verfahren funktionieren könnte. Tatsache ist, dass sich mehr als 250 Menschen in den Vereinigten Staaten in flüssigem Stickstoff haben konservieren lassen, manche Optimisten auch nur Kopf und Hirn; ein paar Dutzend sind in Russland schockgefrostet, und wenn in Deutschland nicht die gesetzlichen Grundlagen dafür fehlten, gäbe es mit Sicherheit auch zahlreiche Aspiranten, die sich in Kryostase begeben würden, wie sich dieser Schritt nennt, weil sie sich nach dem ewigen Leben sehnen.
Bei Don DeLillo ist es ein Finanztycoon namens Ross Lockhart, der viel Geld in ein Projekt namens „The Convergence“ investiert hat, das irgendwo in der kasachischen Wüste liegt. Die nächste Stadt, heißt es einmal vage, sei wohl Bischkek in Kirgistan.
Lockhart, der vom unaufhaltsamen Fortschritt der Kryonik überzeugt ist, will seine schwerkranke zweite Frau dort sterben und konservieren lassen, und er ringt zugleich mit der Entscheidung, sie sofort in den Tod zu begleiten, der in dieser Logik nur Vorstufe zu Wiederauferstehung und Unsterblichkeit ist. Lockharts Motivation, die Geschäftstüchtigkeit mit etwas Altruismus vereint, spricht schon aus dem ersten Satz von „Zero K“: „Jeder will das Ende der Welt besitzen.“

Wem gehört das Ende der Welt?

Doch Ross Lockhart ist nicht der Erzähler, sondern sein Sohn Jeffrey, dessen Verhältnis zum Vater angespannt ist, da dieser die Familie verließ, als Jeffrey 13 Jahre alt war. Ross lässt ihn aus New York einfliegen, und gleich auf den ersten Seiten, in der Beschreibung der Bauten mitten im Nirgendwo, ist er da, dieser typische Sound von Don DeLillo.
„Ich stellte es mir als eine Stadt vor, die erst in der Zukunft entdeckt werden sollte“, sagt Jeffrey über die Anlage der „Convergence“, „versteckte Häuser, agoraphobisch abgedichtet. Es waren blinde Häuser, düster und gedämpft, die Fenster unsichtbar, dazu gemacht, sich selbst zusammenzufalten, sobald der Film den Moment des digitalen Absturzes erreicht.“
Den Konflikt zwischen Vater und Sohn hat DeLillo auch als Konflikt zwischen dem Glauben an die mit wissenschaftlichen Methoden erreichbare Unsterblichkeit und der humanen Skepsis inszeniert, die sich lakonisch in dem Satz ausdrückt: „Was soll das Leben, wenn wir nicht an seinem Ende sterben?“
Es geht also um die letzten Dinge, um die metaphysischen Restbestände, welche sich nicht einfach auflösen im Licht wissenschaftlicher Erkenntnisse. Und die großen Fragen spiegeln sich bei DeLillo immer auch in den kleinen hochauflösenden Alltagsbeobachtungen, in den ephemeren Erscheinungen der populären Kultur.
In Vignetten über die Funktionsweise eines Geldautomaten oder die Art und Weise, wie man Blickkontakt mit Obdachlosen in der U-Bahn vermeidet, steckt auch eine Stück Zeitdiagnostik.
65th Cannes Film Festival - Cosmopolis Press Conference © dpa Vergrößern Don DeLillo
Jeffrey streift durch die Flure und seltsamen Räume der „Convergence“ und kommentiert die Sentenzen der Verantwortlichen, die von „life extension“ reden, was klingt wie die beliebten „hair extensions“. Der Tod wird hier als „kulturelles Artefakt“ betrachtet, als „eine Gewohnheit, mit der sich schwer brechen lässt“. Jeffrey spricht mit Artis, der zweiten Frau seines Vaters, die beim Wiedererwachen auf „eine neue Wahrnehmung der Welt“ hofft, und er schaut ihr beim Sterben zu.

Im Wartesaal des Todes

DeLillo durchschießt diesen ersten Teil des Romans immer wieder mit kleinen Rückblenden in Jeffreys Kindheit; verblasste Erinnerungen an die Mutter und an den Vater, der sich neu erfand, indem er seinen alten Namen Nicholas Satterswaite aufgab und sich knapp und amerikanisch-kernig Ross Lockhart nannte. In der weltfernen Atmosphäre der „Convergence“, in diesem komfortablen Wartesaal des Todes überlässt sich Jeffrey seiner Obsession, Menschen Namen zu geben, die ihnen entsprechen, oder Dinge zu definieren, als hinge deren Existenz davon ab.
Je länger Jeffrey sich an diesem Unort aufhält, desto weniger vertraut, desto unwirklicher erscheint er ihm. Er unterhält sich mit einem seltsamen gefallenen Mönch über den Weltuntergang, und als Jeffrey den Meteor erwähnt, der im Februar 2013 über der Stadt Tscheljabinsk im Ural niederging, sagt sein Gegenüber nur, Sibirien sei dazu da, „um diese Dinge aufzufangen“.
Der rastlose Sohn bleibt vor den großen Bildschirmen stehen, die sich von der Decke herabsenken, und schaut auf Katastrophenbilder ohne Ton: Überflutungen, Tsunamis, ausbrechende Vulkane, verheerende Brände und geplünderte Städte, kriegerische Auseinandersetzungen, Leichname, über denen die Geier kreisen.
In einem Garten trifft er einen steinalten Mann, der vom „Transrationalen“ schwärmt, und überall sieht er unbekleidete Schaufensterpuppen, die den eingefrorenen Menschen in den Gefäßen gleichen – und umgekehrt. Das alles steigert nur seine Abscheu vor dieser „kühlen, weißen Stille“.

Monolog aus dem Zwischenreich

Zwischen die beiden Teile des Romans hat DeLillo so etwas wie einen inneren Monolog gesetzt: „Artis Martineau“ ist er überschrieben, so als gäbe es eine Aufzeichnung aus diesem Zwischenreich des Kälteschlafs, als wäre da etwas nach dem Sterben, das weder Leben ist noch Tod; als wäre Artis wie Schrödingers Katze in der Quantenmechanik: gleichzeitig lebendig und tot.
Erste und dritte Person Singular fallen ineinander: „Sie ist nichts als Wörter, aber sie weiß nicht, wie sie aus den Wörtern heraus jemand werden, wie sie eine Person werden kann, die die Wörter kennt.“ Es ist ein eigenartiger Text, rätselhafter als alles, was Don DeLillo je geschrieben hat, von ferne allenfalls zu vergleichen mit der Erzählperspektive in „Body Artist“.
Es ist ohnehin viel Vintage Don DeLillo in „Zero K“. Die Manie der Namensgebung gehört dazu, ein Augustinus-Zitat aus „Americana“ begegnet einem wieder, die Monitore erinnern an die Videoinstallation des Zapruder-Films in „Unterwelt“, der Meteor von Tscheljabinsk an den Tunguska-Asteroiden von 1908, der in Thomas Pynchons „Gegen den Tag“ eine Rolle spielt. Man könnte diese Liste fast beliebig verlängern.
Samenspende © dpa Vergrößern Hier wird nur eine Samenprobe schockgefrostet, in DeLillos Roman wird der ganze menschliche Körper mittels einer Kryokonservierung in flüssigem Stickstoff bei -196 Grad Celsius gelagert.
Entscheidender ist jedoch die Frage, ob das Recycling ist, ein Zeichen von Ermüdung, oder ob daraus etwas Neues entsteht, ob die alten Techniken, Anspielungen und Stilmittel immer noch die Physiognomie einer neuen Welt sichtbar machen oder sogar etwas vorwegnehmen, wie das in den größten Momenten der früheren Romane geschah.

Die Kunst des Recyclings

Leicht zu beantworten ist das nicht. Jeffrey zumindest hat noch den alten Blick des DeLillo-Helden. Man sollte sich dabei nicht täuschen lassen von der ersten Person Singular, weil DeLillo sich nie in die Psychologie seiner Figuren versenkt hat; es ist eher so, dass die Gedanken und die Assoziationen einer Figur dieser oft gar nicht allein zu „gehören“ scheinen. Sie sind, in den klingenden Reihungen, in den aphoristischen Zuspitzungen eher Stilmittel DeLillos.
Das war schon so bei Jack Gladney in „Weißes Rauschen“ oder erst recht bei dem eremitischen Schriftsteller Bill Gray in „Mao II“. Auch Jeffrey Lockhart ist in der Welt, und die Welt ist auf Distanz, wie durch eine Milchglasscheibe scheint er sie zu betrachten. Seine Beziehung zu seiner Freundin Emma, die erst im zweiten Teil auftaucht, hat etwas Lethargisches, sie wird einfach versickern im Laufe der Erzählung, als wolle Jeffrey nicht kämpfen, als sei er gelähmt von seiner Vergangenheit, von dem Vater, an dem er sich abarbeitet.
Er lehnt jeden Job ab, den der Vater anbietet, er heuert an einem kleinen College in Connecticut als „Compliance and ethics officer“ an, als eine Art Beauftragter für ethisches Geschäftsverhalten und Befolgung von Regeln. Aber er reist noch einmal in die kasachische Wüste, als Sterbebegleiter für den Vater, der, obwohl völlig gesund, von der Trauer um Artis und von der Idee seiner Wiederauferstehung so überwältigt ist, dass er es nicht abwarten kann.
Hingerissen von einem Phantasma, das seine Sterbehelferin mit dem schwülstigen Pathos aller Propheten formuliert: „Sie stehen völlig außerhalb jenes Narrativs, das wir als Geschichte bezeichnen.“ All diese Motive, Metaphern und Gedankenfiguren sind zu diesem Zeitpunkt jedoch längst durchgespielt, nicht ohne Redundanz, mitunter ungewohnt plakativ und ziemlich explizit für DeLillo.

Sterben als bizarre Kunstaktion

Was allerdings auffällt, was die Originalität dieses Romans ausmacht, das ist, wie sich diese Welt der Kryostase, die Jeffrey durchwandert, unter DeLillos Blick mehr und mehr in eine bizarre, unerhörte Kunstaktion zu verwandeln scheint, welche die Trennung von Kunst und Leben verwischt.
DeLillo hat immer schon ein Gespür für die besonderen Wege und Grenzüberschreitungen der modernen Kunst gehabt, ob er nun über Gerhard Richters Baader-Meinhof-Zyklus schrieb oder über einen Flugzeugfriedhof als Kunstinstallation in „Unterwelt“.
Die Schaufensterpuppen in „Zero K“ bündeln Echos von de Chirico und Man Ray bis zu Cindy Shermans „Sex Pictures“, der riesige Totenschädel in einem Saal der „Convergence“ könnte auch von Damien Hirst stammen; Artis redet von Land Art und Jeffrey von Body Art, wie sie als „eine Form visionärer Kunst“ in jenen Behältern auftaucht, in denen die ganzkörperrasierten Schockgefrorenen auf ihr Erwachen warten.
Von all dem geht noch immer eine Faszination aus, von dieser präzisen, kristallinen Sprache, von diesem unverwechselbaren Sound; aber es ist nicht mehr der unwiderstehliche Funke, der überspringt, es ist nicht mehr der Sog, den die Romane früher erzeugten.
 
Dass einer mit fast 80 Jahren schon mal über mögliche Welten nach der Welt nachdenkt, dass ihn das Ungenügen an der Endlichkeit mehr umtreibt als etwa der Terror des IS oder das Universum von Big Data, ist nun aber verständlich. Auch Clint Eastwood hat sich schließlich in „Hereafter“ (2010) mit dem Jenseits im Diesseits befasst.
Und Don DeLillo hat für das Ende von „Zero K“ dann auch einen schönen, epiphanischen Augenblick gefunden. Während einer Busfahrt durch Manhattan, von Westen nach Osten, beobachtet Jeffrey durchs Heckfenster den Sonnenuntergang und erlebt, was in Manhattan wohl ein oder zwei Mal im Jahr passiert: Dass „die Sonnenstrahlen mit dem Gitternetz der Straßen zur Deckung kommen“. Und das ist dann wieder fast so großartig wie das Wort „Peace“ am Ende der fast eintausend Seiten „Unterwelt“.

F.A.Z.