mandag den 10. september 2012

Porträt des ägyptischen Comic-Zeichners Ahmed Omar ''Die Sicht der anderen Seite'' Der Comic-Künstler Ahmed Omar ist vor allem wegen seiner Cartoons in "El-Doshma" bekannt. Seine Comics handeln von Korruption, Ungerechtigkeit – und der Suche nach einem besseren Leben. Matthias Sailer stellt den Künstler vor. Seine Liebe zu Comics entdeckte Ahmed schon früh: Mit sieben Jahren begann er, mit seinem Bruder um die Wette zu zeichnen: "Wir überlegten uns, was wir darstellen wollten und verglichen am Ende, wer das bessere Händchen hatte. Wir malten alles – Ninja-Turtles, Captain Magid, Power Rangers und auch viele eigene Kreationen." Während seines Studiums der bildenden Kunst in Kairo professionalisierte der aus Alexandria stammende Künstler seine Technik weiter. Auf der Suche nach einem Partner, der Texte für seine Zeichnungen schreiben könnte, traf Ahmed schließlich Eslam Abu Shady. Eslam erzählte ihm, dass der bekannte Zeichner Magdy El-Shafee ein größeres Comic-Projekt plante – das Comic-Magazin "El-Doshma". Reale Spannungsfelder Das Magazin behandelt vor allem reale gesellschaftliche und politische Missstände und spiegelt somit auch das Betätigungsfeld des Sponsors des Magazins, des "Hisham Mubarak Law Center", einer ägyptischen Menschenrechtsorganisation, wider. Spiegel der gesellschaftlichen und politischen Missstände: Der vom "Hisham Mubarak Center" finanzierte Comic-Band fokussiert vor allem auf die Lage der Menschenrechte in Ägypten. Die Texte des Heftes stammen von Eslam Abu Shady, der inzwischen fast alle Geschichten für Ahmeds Zeichnungen entwickelt. Da jedoch auch nach der dritten Ausgabe im März diesen Jahres keine Möglichkeit gefunden wurde, die Künstler für die Erstellung des Magazins zu bezahlen, ist die Zukunft des bisherigen Teams im Moment ungewiss. Den Großteil seiner Zeit widmet Ahmed derzeit seiner Arbeit als Grafikdesigner und Concept Artist für eine Computerspielfirma. Ahmeds Geschichte in der ersten, in schwarz-weiß gezeichneten Ausgabe von "El-Doshma" bündelt mehrere Handlungsstränge, die schließlich in den Ereignissen um den Kairoer Tahrirplatz im Januar 2011 zusammengeführt werden. Ahmed mag diese Geschichte besonders, "weil sie auf den tatsächlichen Ereignissen auf dem Tahrirplatz aufbaut". Da ist einmal Mustafa, ein eigentlich unpolitischer, verbeamteter muslimischer Buchhalter, der ein Kind mit einer Christin erwartet, deren strenge Mutter auch noch als Predigerin in einer Kirche arbeitet. Suche nach einem besseren Leben: Ahmed Omars Comics thematisieren die Unzufriedenheit der jüngeren Generation über die herrschenden politischen Zustände, die grassierende Korruption und Vetternwirtschaft. Der zweite Protagonist verkörpert ein immer wieder auftretendes Phänomen auf Demonstrationen, nämlich den plötzlich erscheinenden bezahlten Schläger, der die Proteste zu Gunsten seiner Auftraggeber manipuliert. Für seine Dienste wird dieser Raufbold von der Polizei bezahlt. Auch ein einfacher Bereitschaftspolizist wird porträtiert, der jedoch im Gegensatz zu den meisten anderen Rekruten der Truppe über ein ungewöhnlich stark ausgeprägtes Moralempfinden verfügt. "Wir gehörten zur Sofa-Fraktion" Das Spannende an Ahmed Omars Charakteren ist ihre Entwicklung im Laufe der Geschichte. Mustafa zum Beispiel, dessen schwangere Frau bei einem Autounfall während der Demonstrationen zu Tode kommt, macht zunächst die Demonstranten für die chaotischen Zustände - und damit den Tod seiner Frau - verantwortlich. Doch im Laufe der Handlung begreift er die Hintergründe der Proteste mehr und mehr, und beginnt seine teilnahmslose Sicht auf die Zustände im Land zu hinterfragen. Die Entwicklung des fiktionalen Mustafas ist kein Zufall, sondern reflektiert auch Ahmed Omars eigene Veränderungen seit Revolution. "Ich blieb während der ganzen 18 Tage zu Hause. Zusammen mit meinem Bruder saßen wir mit Knüppeln bewaffnet nahe der Tür und haben das Haus vor Einbrechern geschütz", sagt er lachend. Für den Sohn eines Polizisten war dieses Verhalten naheliegend. "Damals stand ich den Protesten noch kritisch gegenüber. Wir gehörten so gesehen zur Sofa-Fraktion", meint Ahmed, in Anspielung auf die Bevölkerungsgruppe, die sich nicht um die große Politik kümmert, sondern zu Hause lethargisch "auf dem Sofa" sitzt. Inzwischen haben sich seine politischen Ansichten jedoch sehr verändert, was sich auch in seinen Comics widerspiegelt. Spiegel des gesellschaftlichen Umbruchs Wichtig ist für Ahmed vor allem "die Sicht der anderen Seite", also zu zeigen, dass es immer mehrere Perspektiven auf ein Problem gibt. So zeichnet er den bezahlten Raufbold zwar einerseits als kantige und muskulöse dunkle Gestalt. Andererseits gibt er ihm auch freundliche, manchmal fast sanfte Gesichtszüge, die unterstreichen, dass er sich von dem kriminellen Polizisten nicht aus Freude an der Arbeit bezahlen lässt, sondern um ihm und seiner Mutter eine ärmliche Wohnung bezahlen zu können. Von der 'Sofa-Fraktion' zur aktiven politischen Teilnahme: Anfangs stand Ahmed Omar den Protesten eher kritisch gegenüber, bis er sich über den Aufstand in Ägypten ausführlich informierte. Auch der Bereitschaftspolizist wird nicht nur als anonymer, prügelnder Vertreter des Regimes dargestellt: Er entwickelt eine zunehmend kritische Sichtweise auf das von oben befohlene brutale Vorgehen gegen die Demonstranten und erschießt am Ende sogar den kriminellen Polizisten. Ähnlich wird dem Leiden Mustafas christlicher Frau unter ihrer strengen, die Beziehung mit ihrem muslimischen Mann verurteilenden Mutter viel Raum eingeräumt. Damit soll gezeigt werden, was starre gesellschaftliche Konventionen einem jungen Menschen bedeuten können. An einer Stelle verlässt Ahmed sogar die realistische Darstellungsweise und stellt die Mutter als männlich wirkenden Priester dar. In seinem neuesten, noch unveröffentlichten Comic räumt er solchen abstrakteren Darstellungsformen noch mehr Raum ein. Auch seinen thematischen Schwerpunkten bleibt er in der von ihm ausgesuchten Geschichte treu: Diese handelt von einem von Schicksalsschlägen und gesellschaftlichen Konventionen erdrückten Menschen, der an Halluzinationen leidet und Medikamente nimmt, um sich unter Kontrolle zu behalten. Ahmed Omars Comics stellen also einen Spiegel der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche Ägyptens und damit auch vieler anderer arabischer Länder dar. Sie thematisieren die Unzufriedenheit vieler vor allem junger Menschen mit Korruption, verkrusteten Konventionen und überall sichtbarer Ungerechtigkeit – oder in Ahmeds Worten: "die Suche der jungen Generation nach einem besseren Leben." Matthias Sailer © Goethe-Institut Kairo 2012 Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Islamophobie

Interview mit Imam Talib Abdur Rashid Islamophobie als Teil des politischen Spiels In den USA wird das Klima Muslimen gegenüber intoleranter. Kampagnen für sogenannte Anti-Scharia-Gesetze schüren Hysterie, in New York stellte ein Ausbildungsfilm der Polizei alle Muslime unter Dschihad-Verdacht, und Under-Cover-Agenten bespitzeln dort muslimische Aktivitäten. Darüber sprach Charlotte Wiedemann mit Imam Talib Abdur Rashid, dem Leiter des Moscheeverbandes "Islamic Leadership Council". Sie standen auf der Straße mit einem Schild "Muslime verlangen gleiche Rechte!" Wogegen richtete sich Ihr Protest? Talib Abdur Rashid: Die Überwachung von muslimischen Communities, von Moscheen, Treffpunkten und Studentengruppen ist ein heftiger Verstoß gegen die amerikanische Verfassung. Die New Yorker Polizei und ihre "Intelligence Division" maßen sich unter dem Vorwand der Sicherheit an, überall herumzuspionieren. Wir werden uns damit nicht abfinden. Das muss vor Gericht geklärt werden. In Umfragen äußert nahezu jeder zweite Amerikaner eine schlechte Meinung über den Islam. Unter den Republikaner-Anhängern nennt jeder Dritte Barack Obama einen Muslim, als Synonym für unamerikanisch. Ist die religiöse Toleranz der USA am Ende? Abdur Rashid: Die Atmosphäre ist heute für Muslime negativer als nach den Anschlägen vom September 2001. Wir sind alle traumatisiert von 9/11, aber damals gab es Bemühungen, sich untereinander als Amerikaner zu unterstützen und nicht in ein Kollektivschuld-Denken zu verfallen. Heute haben die Republikaner und besonders die Tea Party Islamophobie zum Bestandteil ihrer politischen Plattform gemacht. Sie benutzen Ängste, Traumata und den Mangel an Wissen für ihr politisches Spiel. Wir sehen in jüngster Zeit, dass es in jedem Wahljahr einen Anstieg der anti-islamischen Emotionen gibt. So war es bereits bei der Obama-Wahl vor vier Jahren und bei den lokalen Wahlen in New York vor zwei Jahren. Nicht alle stellen sich so offensiv wie Sie gegen Islamophobie. Sie bezichtigen manche prominenten Muslime arabischer oder asiatischer Herkunft des Opportunismus. Warum? Wehrt sich gegen die seiner Meinung nach "verfassungswidrige Überwachung" muslimischer Vereine und Studentenverbände: Imam Talib Abdur Rashid Abdur Rashid: Die amerikanischen Muslime müssen aufhören, sich selbst ständig als "der andere" zu sehen. Und das gilt auf zweierlei Weise. Die eingewanderten Muslime reißen sich ein Bein aus, um als echte Amerikaner akzeptiert zu werden. Ich sage ihnen: Wenn du Amerikaner bist, dann verhalte dich auch so! Hier ist Amerika und nicht Bangladesch. Die Afro-Amerikaner wiederum, also die einheimischen Muslime von Amerika, müssen sich selbstbewusst zu ihrer Einzigartigkeit bekennen. Immerhin stellen wir ein Drittel der hiesigen Muslime. Unsere Zahl übersteigt die jeder anderen ethnischen Gruppe innerhalb der US-Muslime. Sie werfen den eingewanderten Muslimen vor, sich oft paternalistisch gegenüber den schwarzen Muslimen, den Konvertiten und ihren Nachkommen, aufzuführen. Was ist der Grund für diese Überheblichkeit? Abdur Rashid: Die meisten eingewanderten Muslime kennen die Geschichte der afro-amerikanischen Muslime gar nicht. Sie suchen für sich selbst eine Nische in der Gesellschaft. Deshalb wollen sie gute Beziehung zu den Mächtigen, und das sind vor allem Amerikaner europäischer Abstammung. Die Muslime arabischer und südasiatischer Herkunft beziehen sich mehr auf die weißen Machtstrukturen als auf ihre muslimischen Brüder und Schwestern, die den Islam hier etabliert haben. Aber im 21. Jahrhundert sollten wir anfangen zu begreifen, dass wir alle mit derselben Islamophobie konfrontiert sind. Wir müssen lernen, für die Stärkung der muslimischen Gemeinde als Ganzes zu arbeiten. Ich setze auf die junge Generation, sie denkt globaler und wird uns über die Differenzen hinweg helfen. Was religiöse Praktiken und Lebensstile betrifft sind die Muslime der USA sehr heterogen. Ist die Vielfalt genauso groß wie unter den amerikanischen Christen, die im Vergleich zu Europa immens zersplittert wirken? Abdur Rashid: Ja. Diese eklektische Vielfalt ist ein Teil davon, was es bedeutet, Amerikaner zu sein. Das gilt für die Christen, für die Juden und für die Muslime. Ein Rabbiner-Freund sagte mir neulich: "Wenn wir fünf Rabbiner in einem Raum haben, dann haben sie sechs Meinungen." Ich antworte ihm: "Fünf Imame in einem Raum können sieben Meinungen haben." Vielfalt ist unsere Stärke! Sie fordern die schwarzen Muslime auf, ihrem Schicksal, ihrer Mission treu zu sein. Was meinen Sie damit? Der inzwischen verstorbene Anführer der "Black Muslims" Malcolm X gilt auch heute noch vielen afroamerikanischen Muslimen als großes politisches Vorbild. Abdur Rashid: Die Etablierung des Islam in Amerika hat mit dem Sklavenhandel begonnen. Ich persönlich glaube, dass dies Teil eines göttlichen Plans für dieses Land war. Es ist kein Zufall, dass in den USA afro-amerikanische Muslime in so großer Zahl existieren – das ist ein göttlicher Entwurf. Hier in New York sind die Westafrikaner heute die am schnellsten wachsende muslimische Community. Ich sage ihnen: "Gott hat uns hierhin gebracht, damit wir euch empfangen können!" Aber viele Afro-Amerikaner, auch die muslimischen, haben zu wenig Bewusstsein ihrer Geschichte und zu wenig Selbstwertgefühl. Es mangelt ihnen an psychischer und spiritueller Verwurzelung. Dieses Problems bin ich mir als Imam sehr bewusst. Sie haben den Islam als 20-jähriger angenommen, das war 1971. Wurden Sie, wie viele andere Konvertiten, christlich-religiös erzogen? Abdur Rashid: Meine Eltern waren Baptisten in North Carolina. Sie ließen sich scheiden, als ich Kind war. Mit acht Jahren wurde ich Lutheraner, unterrichtete als Teenager sogar an einer Sonntagsschule. Aus spiritueller Neugier interessierte ich mich für andere Religionen. Am Ende wurde ich Muslim – Gott hat mich geführt. Heute habe ich einen muslimischen Sohn und eine Tochter, die Christin ist; sie hat sich so entschieden, obwohl sie muslimisch erzogen wurde. Das ist eine typisch afro-amerikanische Familie. Als Sie zum Islam konvertierten, im Jahr 1971, war der Mord an Malcolm X erst sechs Jahre her. Er starb nicht weit von dieser Harlemer Moschee, wo wir jetzt gerade sitzen. Was ist aus dieser Zeit geblieben? Abdur Rashid: Der Kampf für Gerechtigkeit! Das ist ein enorm wichtiges Anliegen aller Afro-Amerikaner und ganz besonders der Muslime unter ihnen. Malcolm X war eine Schlüsselfigur: sowohl für den Kampf um soziale Gerechtigkeit wie auch für die Hinwendung der Afro-Amerikaner zur sunnitischen Tradition des Islam. Malcolm ging von einer Version des Islam über zum eigentlichen Islam. Er ist heute immer noch eine sehr inspirierende Person. Unter jungen afro-amerikanischen Muslimen werden salafistische Strömungen beobachtet, mancherorts scheint dies eine Art Mode zu sein. Bereitet Ihnen das Sorge? Abdur Rashid: Ich sehe einen positiven und einen negativen Einfluss. Es ist wichtig, die Aufmerksamkeit der indigenen amerikanischen Muslime auf die authentischen Quellen des Islam zu lenken. Die Fokussierung der Salafisten auf den Koran und die Praxis des Propheten hat einen positiven Effekt, weil bei uns der Islam aufgrund des Eklektizismus immer allen möglichen Ideologien und Philosophien ausgesetzt ist. Aber leider haben die afro-amerikanischen Muslime wegen ihrer mangelnden Verwurzelung den Hang, sich kulturell beeinflussen zu lassen. Die Salafisten kommen aus der arabischen Welt. Im Namen der Religion kopieren nun manche Afro-Amerikaner arabische Sitten. Das ist nicht gut. Interview: Charlotte Wiedemann © Qantara.de 2012 Imam Talib Abdur Rashid, 61, Afro-Amerikaner, Konvertit, ist im interreligiösen Dialog aktiv und ein streitlustiger Blogger. Seine Moschee, die "Mosque of Islamic Brotherhood Inc." in Harlem, wurde einst von Männern und Frauen gegründet, die mit Malcolm X die "Nation of Islam" verließen und sich dem Mainstream des sunnitischen Islam zuwandten. Die afro-amerikanischen Konvertiten und ihre Nachkommen stellen ein Drittel der geschätzt sieben Millionen US-Muslime. Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Interview mit Tariq Ramadan Eine Revolution im Schwebezustand Nach Ansicht des islamischen Intellektuellen Tariq Ramadan bleiben die Revolutionen in der arabischen Welt unvollendet oder haben ihr Ziel bislang nicht erreicht. Ceyda Nurtsch hat sich mit ihm über die Perspektiven der Volksaufstände und den Charakter der Protestbewegungen unterhalten. Sie widersprechen der "idealistischen" Bewertung, wie Sie sagen, dass es sich bei den arabischen Aufständen um eine Bewegung handelt, die aus dem Nichts oder einfach spontan durch junge Leute entstanden ist. Warum? Tariq Ramadan: Als George W. Bush von der Demokratisierung des Mittleren Ostens gesprochen hat, war klar, dass er es ernst damit meinte. Viele amerikanische Institutionen begannen damit, Menschen dahingehend auszubilden. Ein Beispiel ist der friedliche Revolutionär Srdja Popovic, Mitbegründer der serbischen Protestbewegung "Otpor", der Menschen gegen Milosevic ausbildete. Es gibt also Cyber-Dissidenten und Menschen, die eine spezielle Ausbildung erhielten. Die Bewegung ist also von Anfang an unterstützt worden. Unterstützt man eine solche Massenbewegung, kann man die Folgen aber letztlich nicht absehen. Und das ist genau das, was ich auch in meinem Buch "The Arab Awakening. Islam and the New Middle East" erkläre: Wir können nicht so weit gehen und behaupten, dass es sich bei diesen Protestbewegungen um eine "Verschwörung der USA" handelt. Vielmehr stehen sie für eine Bewegung in Richtung Demokratie, die aus vielen Gründen – auch nicht-politischer Natur – entstanden ist: Wirtschaftliche Gründe spielten ebenso eine Rolle wie die Rolle Chinas und Indiens. Revolution als Export-Modell: Die serbische Jugendbewegung "Otpor" hat 2000 durch gewaltfreie Aktionen zum Sturz des Milosevic-Regimes beigetragen und diente auch den arabischen Demokratiebewegungen während des Arabischen Frühlings als politisches Vorbild. In meinem Buch analysiere ich, inwiefern die Vereinigten Staaten und die europäischen Länder ihre Politik ändern mussten, um nicht die Märkte in dieser Region zu verlieren. Also veränderten sie ihre Position und übten einen gewissen Druck aus. Was wir derzeit beobachten, ist eine Übergangssituation. Wir wissen noch nicht, wie sich die Staaten weiterentwickeln werden. Klar ist, dass in einem Land der Region die Entwicklung gewiss nicht im Sinne Amerikas oder der europäischen Staaten: verlief: In Syrien wollte man zu Beginn, dass Baschar al-Assad an der Macht bleibt und das Land von innen heraus reformiert. Aber angesichts des Muts der Menschen, ihrer Entschlossenheit und ihrer Hingabe erkennen wir nun, dass es für sie keine andere Wahl gibt als eine grundlegende Veränderung. Wir müssen also vorsichtig sein und können nicht so weit gehen zu behaupten, es handele sich hierbei um eine Verschwörung. Doch gleichzeitig sollten wir auch nicht naiv sein und davon ausgehen, dass diese Bewegungen aus dem Nichts gekommen sind. Doch Sie leugnen nicht den eigenständigen Charakter der Bewegung? Ramadan: Nein, es gibt durchaus etwas Eigenständiges. Die Jugend hat sich wirklich für die Bewegung eingesetzt. Die Stärke der Bewegung lag darin, dass sie keine Führung hatte. Doch darin lag gleichzeitig auch ihre Schwäche. Nun beobachten wir, dass die Bewegung zersplittert ist. Um die Dynamik der Aufstände zu beschreiben, benutzen sie häufig die Analogie eines Schachspiels anstatt der häufig verwendeten Metapher des Domino-Effekts. Wer profitiert am meisten von den Aufständen? Ramadan: Wenn ich Schachspiel sage, meine ich damit ein Spiel mit vielen Akteuren. Es ist kein Spiel mit nur zwei Spielern. Da gibt es die Gesellschaften und die Regierungen in Tunesien, Ägypten, Jemen, Syrien, Libyen, Bahrain und in Marokko. "In Syrien wollte man zu Beginn, dass Baschar al-Assad an der Macht bleibt. Aber nun erkennen wir, dass es für sie keine andere Wahl gibt als eine grundlegende Veränderung", sagt Tariq Ramadan. Und es gibt die Akteure von außerhalb: Es gibt den Westen, der jahrzehntelang eine wichtige Rolle gespielt hat, wie die USA und die europäischen Länder. Aber es gibt auch neue Akteure in der Region. Lateinamerika und die asiatischen Länder, Indien, Russland und China spielen heute eine wichtige wirtschaftliche Rolle in der Region. China zum Beispiel hat in den letzten Jahren seinen wirtschaftlichen Einfluss um das siebenfache gesteigert. Auch der Einfluss der Türkei in der Region wächst. Es ist letztlich alles eine Frage der Strategie: Wer wird was gewinnen? Es ist ein offenes Geheimnis in Syrien, weshalb Russland und China das Regime unterstützen und warum es auf der anderen Seite die Vereinigten Staaten und die Europäer gibt und weshalb es diese Trennung zwischen Schiiten und Sunniten gibt, die auch Teil dieser Schachpartie sind. Die Situation ist also sehr komplex. Vor allem im Westen werden immer wieder Bedenken laut, die Islamisten hätten die Aufstandsbewegungen in der Region letztlich für ihre Zwecke instrumentalisiert, sie "entführt". Ramadan: Ich denke, das ist eine grob vereinfachende Art, die Bevölkerung der Länder zu sehen. Darüber hinaus, handelt es sich bei den Islamisten ja um keine monolithische Bewegung. Der Ausgangspunkt der Aufstandsbewegung war die Jugend, aber unter ihr befanden sich auch Islamisten der jüngeren Generation, die auch die ältere Generation innerhalb der Bewegung integrierten. Die Islamisten waren Teil der Opposition, das macht sie glaubwürdig.Zu einem großen Teil handelte des sich um Muslime. In Ländern wie Ägypten gibt es aber auch die Kopten. Am Ende war der religiöse Faktor die naheliegende Referenz und erst dann kam der politische Bezugsrahmen. Die Bewegung wurde also nicht "entführt". Da es anfänglich keine Führung gab, wurde diese schließlich von den besser organisierten Kräften übernommen. "Am Ende war der religiöse Faktor die naheliegende Referenz": Demonstration von Anhängern der Muslimbruderschaft und der Salafisten gegen den Obersten Militärrat auf dem Tahrir-Platz in Kairo, der zu Beginn des Aufstands gegen das Mubarak-Regime noch das Zentrum der säkularen Opposition und der jungen "Tahrir-Revolutionäre" gewesen war. Niemand weiß genau, was geschehen wird. Man kann Menschen nicht beurteilen, bevor sie nicht etwas umgesetzt haben. Also sage ich: Lass’ sie es versuchen, anstatt die Losung der Diktatoren zu akzeptieren, die da lautet: Besser wir als die! Das Beispiel Türkei zeigt, dass dort viel mehr von der Regierung umgesetzt wurde als in den vielen anderen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, wo bisher die Diktatoren das Sagen hatten. Also sollte man ihnen besser die Chance geben als weiterhin den Diktatoren zu trauen. Doch sollten wir auch kritisch sein, falls sie ihre Prinzipien verraten sollten. Bis jetzt haben sie es abgelehnt, die Geschehnisse im Nahen Osten und in Nordafrika als "Arabischen Frühling" oder als "Revolution" zu bezeichnen. Stattdessen bevorzugen sie Begriffe wie "Aufstand" oder "Erwachen". Weshalb? Ramadan: Der Grund ist, dass ich denke, dass es sich entweder um unvollendete Revolutionen handelt oder um Revolutionen, die ihr Ziel nicht erreicht haben. "Unvollendet" bedeutet, dass sie noch Erfolg haben können. "Unerreicht" hingegen steht für Misserfolg. Aber ich denke, dass wir uns derzeit noch irgendwo dazwischen befinden. Ich sehe jedenfalls im Augenblick noch kein Land, das dieses Ziel bereits erreicht hat – auch nicht Tunesien. Wir sollten daher diesen bis heute anhaltenden Prozess weiterhin vorsichtig und kritisch beobachten. Interview: Ceyda Nurtsch © Qantara.de 2012 Tariq Ramadan ist Professor für Islamwissenschaften am St. Antony’s College der Oxford University.

Syrische Bürgerkrieg

„Assad droht Gaddafis Schicksal“ München – Im syrischen Bürgerkrieg eskaliert die Gewalt. Ein Ende des Assad-Regimes ist aber nicht in Sicht. Wir sprachen darüber mit dem Nahost-Experten Prof. Dr. Peter Scholl-Latour: Herr Scholl-Latour, wie viel Zeit geben Sie dem Assad-Regime noch? Viele Hunde sind des Hasen Tod. Der Umsturz und der Fall des Regimes erfolgen nicht von innen her. Er wird systematisch von außen betrieben. Assad hat natürlich im Land sehr viele Feinde. Aber so, wie der „Arabische Frühling“ bisher verlaufen ist, würde sogar der sunnitische Mittelstand, der in Syrien sehr bedeutend ist, auf diesen Bürgerkrieg gerne verzichten. Assad ist Alewit, gehört also einer Minderheit an. Wie sind die Alewiten einzuordnen? Professor Peter Scholl-Latour Assad hat sie auf seiner Seite. Es handelt sich dabei um kampferprobte Truppen, sogar um grausame Milizen, die jetzt um ihr Leben kämpfen. Es geht nicht nur um das Verteidigen von Privilegien. Diese Truppen werden massakriert, wenn ihre Gegner an die Macht kommen. Was haben die Christen zu befürchten? Das ist im Fall Syrien der eigentliche Skandal. Der Westen kümmert sich nicht im Geringsten um das Schicksal der syrischen Christen – immerhin zehn Prozent der Bevölkerung. Den Christen wird es nach einer Machtergreifung durch die Salafisten ebenso ergehen wie einst den Christen im Irak, von denen die Hälfte bereits geflohen ist. Bei aller Kritik darf man nicht vergessen, dass das Assad-Regime das einzige säkulare im gesamten Orient war. Es gab in Syrien sogar einen christlichen General, der erst kürzlich umgebracht worden ist. Syrien: So wütet Assad gegen sein eigenes Volk Dennoch war der Aufruhr in Syrien wohl kaum zu vermeiden. Das ist richtig. Syrien steht in einer Linie mit nahezu allen arabischen Ländern – ausgenommen jene Staaten, in denen Monarchien sich mit allen Mitteln und auch mit US- Hilfe behaupten. Wer steht hinter den Aufständischen in Syrien, wer unterstützt sie? Saudi-Arabien, Katar, die Türkei und natürlich die USA. Nicht zu vergessen die Europäer, die ebenfalls kräftig mitmischen. Sie sind vor allem verbal immer in vorderster Front zu finden. Etwa beim Fordern von Sanktionen. Geht es um tatkräftiges Engagement, stellen sie sich allerdings meist weit hinten an. Diese Rufe nach Sanktionen sind wenig sinnvoll, weil sie in erster Linie die armen Bevölkerungsteile treffen. Und nicht die führenden Schichten, wie wir wissen. Sie meinen damit die Sanktionen gegen den Irak? Ja, dort konnte unter anderem wegen fehlender Chemikalien das Trinkwasser nicht gereinigt werden, und tausende Kinder mussten qualvoll sterben. Sanktionen, das muss man klar sehen, sind eine inhumane Maßnahme. Wie kommen die Aufständischen in Syrien an Waffen und Munition, wie funktioniert die Logistik? An Geld herrscht kein Mangel. Dafür sorgen die Saudis, Katar und die USA. Geliefert werden die Waffen ganz offiziell über die Türkei nach Syrien. Ohne diese Hilfe hätten die Aufständischen niemals die Kraft, gegen Assads Truppen zu bestehen. Es fällt auch auf, dass die Aufstände in Orten ausbrachen, die sehr nahe an den Grenzen zu Jordanien und zur Türkei liegen. Warum liegt vor allem den USA so viel am Sturz des Assad-Regimes? Der eigentliche Zweck dieses Umsturzes, und deshalb sind auch die Amerikaner so intensiv beteiligt, ist das Verhindern einer Achse. Unterbunden werden soll, dass der Iran über den Irak – der ebenfalls mehrheitlich schiitisch ist und dessen Regierungschef mit Teheran sympathisiert – und über die Alewiten in Syrien, die ebenfalls Teheran nahestehen, die bereits enge Verbindung zur Hisbollah im Libanon ausbaut. Dort ist die Hisbollah im Süden die stärkste und landesweit die kontrollierende Kraft. Sie ist so stark, dass sie im Jahr 2006 sogar die Israelis zurückschlagen konnte. Seit einigen Tagen wird viel von Assads Giftgas-Arsenalen gesprochen. Was halten Sie davon? Das erinnert stark an die Ereignisse vor dem Irak-Krieg. Im Jahr 2003 musste sich US-Außenminister Colin Powell vor die Vereinten Nationen stellen und über Massenvernichtungswaffen berichten, die Saddam Hussein nie hatte. Zumindest nicht in größerem Ausmaß. Natürlich verfügen auch die Syrer – wie nahezu alle Länder in der Region – über Gift-Kampfstoffe. Doch das Arsenal dürfte überschaubar sein. Der Einsatz ist unwahrscheinlich, er würde die eigene Bevölkerung treffen. Lassen Sie uns noch einmal auf die Rolle des Iran kommen: Wie groß ist sie? Längst nicht so groß, wie sie vor allem im Westen immer wieder dargestellt wird. Der Iran hat sich zuletzt sehr stark zurückgehalten. Unter anderem auch im Irak, wo längst viel radikalere Kräfte an der Macht sein könnten. Mit Blick auf Syrien sollte nicht übersehen werden, dass dort salafistische und extremistische Kräfte agieren, die von Saudi-Arabien und dem dortigen Wahhabiten-Regime sowie durch religiöse Institutionen unterstützt werden. Auch El Kaida ist in Syrien engagiert – was bedeutet, dass die Amerikaner dort zu Verbündeten einer Terrororganisation geworden sind. Stichwort Russland: Das Verhalten des Kreml in der Syrien-Frage wird viel kritisiert. Zu Recht? Ich bin darüber nicht sehr entrüstet. Auch wir sollten ein wenig mehr Zurückhaltung üben. Dass US-Außenministerin Clinton sich kürzlich in Kairo einzumischen versuchte, wird ganz sicher keine positiven Folgen haben. Was wird denn mit Präsident Assad passieren? Er hat nur wenige Möglichkeiten. Falls er nicht irgendwo ins Exil gehen kann, wird er entweder Gaddafis Schicksal teilen, der von seinen Gegnern gefoltert, gepfählt und erst dann getötet worden ist, oder er landet vor dem Internationalen Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag und verbringt den Rest seines Lebens in einer Gefängniszelle. Er wird also bis zum Letzten kämpfen? Es wird ihm gar nichts anderes übrig bleiben. Er hat ja auch Verpflichtungen gegenüber seinen alewitischen Glaubensbrüdern, denen bei einer Niederlage des Regimes ein Massaker droht, an dem gemessen die bisherigen Verluste des Regimes gering sind. Wie lange wird der Krieg in Syrien Ihrer Einschätzung nach dauern? Die Kämpfe können noch sehr lange anhalten. Im Libanon hat der Bürgerkrieg 15 Jahre gedauert. Das wird in Syrien aber nicht der Fall sein, weil der Druck von außen sehr viel größer ist. Aber auch mit Blick auf eine drohende lange Dauer der Kämpfe gilt: Sich direkt einzumischen, ist nicht ratsam. Das Gespräch führte Werner Menner zurück zur Übersicht: Politik