fredag den 5. november 2010

der Traum der Kelten


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Artikel-ServicesMario Vargas Llosas neuer Roman
Europa war die Wiege des Bösen
Mario Vargas Llosa stellt in Madrid seinen neuen Roman „Der Traum des Kelten“ vor. Er handelt von den europäischen Verbrechen der Kolonialzeit. Und er erscheint in Deutschland überraschenderweise nicht bei Suhrkamp, sondern bei Rowohlt.
Von Paul Ingendaay, Madrid

DruckenVersendenSpeichernVorherige SeiteKurz-Link kopieren
TeilenTwitter04. November 2010 Da steht er auf dem Podium des Madrider Kulturzentrums Casa de América und lässt sich feiern, bleibt aber bescheiden, und wer es nicht glaubte, müsste nur den wohlüberlegten Sätzen in seinem weichen peruanischen Spanisch lauschen: Mario Vargas Llosa hat mit vierundsiebzig Jahren die höchste Ehrung der literarischen Welt erfahren, aber der Nobelpreis ist für einen, der einem so strengen Arbeitsrhythmus folgt wie er, ein schlimmer Zeitfresser.

„Ich versuche, meine Schreibroutine beizubehalten“, sagt er, „aber es ist nicht einfach. Menschen belagern mein Haus. Ich schlafe zwei, drei Stunden pro Nacht, wenn ich überhaupt schlafe.“ Er habe nie daran gedacht, diese Auszeichnung zu erhalten, sondern wollte immer nur „gute Bücher schreiben“.

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© dapd
Der Nobelpreis ist ein schlimmer Zeitfresser: Mario Vargas Llosa bei seiner Buchvorstellung in Madrid

Seinen neuesten Roman hat er mitgebracht, „El sueño del celta“ (Der Traum des Kelten, Alfaguara Verlag). Das Buch liegt jetzt in allen Ländern der spanischsprachigen Welt aus, in Madrid wird schon eine Marathonlesung veranstaltet, es ist der sichere Bestseller. Die Moderatorin drückt noch einmal den Dank Lateinamerikas für die Zuerkennung der Ehrung aus Schweden aus, dann sagt sie, die Übersetzungsrechte des Romans seien schon in zweiundzwanzig Länder verkauft, darunter auch Deutschland. Später fragen wir nach, wer denn der glückliche Verlag sei, und die Moderatorin zeigt uns das Blatt mit der Liste, die frisch von der Agentur Carmen Balcells in Barcelona kommt: Rowohlt steht darauf.

Damit verlässt Vargas Llosa nach etwa drei Jahrzehnten den Suhrkamp Verlag und kehrt zu dem Haus zurück, das seine frühen Titel auf Deutsch publizierte: „Die Stadt und die Hunde“, „Das grüne Haus“ und „Die ewige Orgie“, seinen Essay über Flaubert. Doch der üppige Garten der modernen lateinamerikanischen Literatur, den Siegfried Unseld im Suhrkamp Verlag angelegt hat, ist um einen mächtigen Baum ärmer.

Das Geheimnis ruht im Grab„Der Traum des Kelten“ schildert auf 450 Seiten das Leben von Roger Casement (1864 bis 1916), einem Iren katholisch-protestantischer Herkunft, der zwei sehr verschiedene Arten Ruhm erwarb. Einmal, weil er als britischer Konsul schonungslose Berichte über die Grausamkeiten der belgischen Kolonialmacht im Kongo (1904) und der Peruvian Amazon Company im Amazonasbecken (1912) verfasste, wofür er gelobt, geadelt, herumgereicht und mit guten Gründen gefürchtet wurde. Und zum anderen, weil er als irischer Nationalist in Deutschland gegen Großbritanniens Herrschaft über Irland agitierte, wofür er unmittelbar vor dem Dubliner Osteraufstand im Jahr 1916 in London ins Gefängnis geworfen und drei Monate später gehängt wurde. Vargas Llosas Roman endet mit dem Augenblick, in dem man dem Verurteilten die Schlinge um den Hals legt und der formvollendete britische Henker ihm zuflüstert: „Wenn Sie den Atem anhalten, geht es schneller, Sir.“

Eine wichtige Rolle für Casements Ansehensverlust spielten die sogenannten „Black Diaries“, in denen der Diplomat eine Chronik seiner homosexuellen Aktivitäten erstellt hatte. Die Echtheit dieser Tagebücher wurde oft in Zweifel gezogen, doch heute neigt man dazu, sie für authentisch zu halten. Homosexualität stand in England unter Strafe; zusammen mit dem Stigma des Vaterlandsverrats reichte sie aus, um den berühmten, kurz zuvor noch hochangesehenen Mann jeder Unterstützung zu berauben. Für Vargas Llosa sind diese Aufzeichnungen eher das Produkt einer überhitzten Phantasie, und die Homosexualität der Hauptfigur wird im Roman eher mit zarten Strichen gezeichnet. Kein Thema für große Enthüllungen. Das Geheimnis ruht mit seinem Träger im Grab.

Die Beschäftigung des peruanisch-spanischen Autors mit Roger Casement reicht einige Jahre zurück. In einem Essay über Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ (2001) berichtet er von der Begegnung der beiden Männer im Kongo und erwähnt Conrads Bewunderung für Casements sicheres Urteil über die belgische Kolonialpolitik. Die Entzauberung des einen nahm die des anderen vorweg, denn Conrad stieg aus seinem Dreijahresvertrag als Kapitän der Handelsschifffahrt aus und kehrte nach sechs Monaten nach England zurück. Beide Männer legten, jeder auf seine Weise, niederschmetterndes Zeugnis vom angeblich segensreichen Wirken europäischer Zivilisation, Religion und Handelskultur in Afrika ab - Conrad durch seine vieldeutige Erzählung, Casement durch seinen Bericht über Folter, Mord und Ausbeutung, die es dem belgischen König Leopold II. (Vargas Llosa zählt ihn neben Hitler und Stalin zu den großen politischen Verbrechern des Jahrhunderts) ermöglichten, zu einem der reichsten Männer der Erde zu werden.

Mancher Dialog wirkt unfreiwillig naiv
Es habe ihn beschäftigt, wie leicht gebildete, religiöse Männer zu Barbaren geworden seien, erzählt Vargas Llosa jetzt in Madrid. Auf einer Fläche, die 75 Prozent der Fläche Europas umfasse, sei durch Gier und Profitstreben jede Legalität verschwunden. „Der Traum des Kelten“ darf in dieser Beziehung als populäres Sachbuch gelesen werden. Belgische Militärs - die Force Publique - pressten die kongolesische Bevölkerung nicht nur in unbezahlten Arbeitsdienst von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sie erlegten jedem Dorf auch eine Quote von Nahrungsmitteln auf, die für die Besatzungsmacht zu besorgen waren. Da die Quoten weit über der Arbeitskapazität lagen, gehörten Auspeitschen und das Abhacken von Händen, Füßen und Geschlechtsteilen zum Alltag. Männer verkauften ihre Kinder; Frauen wurden in Bordelle gesperrt, bis die Schulden bezahlt waren; die terrorisierten Dörfer verloren durch die Schreckensherrschaft der Kolonialmacht die Hälfte, manchmal drei Viertel ihrer Bevölkerung.

Roger Casements Enthüllungen hatten seinerzeit eine ungeheure öffentliche Wirkung und versetzten die Diplomaten verschiedener Länder in Aufregung. Viele der Ausbeuterfirmen waren in London an der Börse notiert. Im Jahr 1905 schrieb Mark Twain einen höhnischen satirischen Monolog König Leopolds II. und illustrierte ihn mit Fotografien von Kongolesen mit abgehackten Händen. Heutige Bürgerkriege, Korruption und Machtmissbrauch, so Vargas Llosa, seien die direkte Folge der damaligen europäischen Politik.

In den Essays dieses wachen politischen Kopfes und modernen Aufklärers stößt man immer wieder auf die Forderung, Literatur möge gesellschaftlich zu etwas nütze sein, sie solle sich dem Gedudel und dem Unterhaltungsbetrieb ebenso verweigern wie der politischen Anästhesie. Verständlich also, dass Vargas Llosa sich von seinem Thema gefangennehmen ließ, in Bibliotheken auf drei Kontinenten forschte und mit unzähligen Experten sprach. In Kongo übrigens traf er nur auf einen Einzigen, dem der Name Roger Casement ein Begriff war. Es scheint, als habe dieser Gedächtnisschwund der Historie den Romanautor mit seiner eigentlichen Aufgabe versehen: die Geschichte von der Erkenntnis des Bösen in allen Details auszubreiten und sie mit Daten, Namen und Schauplätzen zu versehen. An diesem Gewicht hat der Roman „Der Traum des Kelten“ schwer zu tragen, und mancher erfundene Dialog wirkt unfreiwillig naiv.

Da lacht Mario Vargas Llosa
In „Die Ringe des Saturn“ hat der 2001 viel zu früh gestorbene Schriftsteller W. G. Sebald gezeigt, wie es anders ginge. Kapitel fünf dieses erstaunlichen Buches handelt auf fünfunddreißig Seiten von Joseph Conrad und Roger Casement. Der Autor, so erzählt er uns, ist im grünen Samtfauteuil vor einer Fernsehdokumentation über die beiden Kongo-Reisenden eingeschlafen; ein paar Sätze haben ihn aber mit gespenstischer Präzision bis in seine Träume verfolgt. Dann, nach dem Aufwachen, will Sebald es genauer wissen. Er liest nach. Aber er sagt uns nicht, was er gelesen hat. Von seiner Recherche verrät er uns kein Wort. Er erzählt nur, er beschwört, er schwebt mit halbgeschlossenen Augen über den Dingen und zieht aus diesen beiden tragischen, abgekämpften Helden der Entzauberung eine Poesie, die man vielleicht nur herausholen konnte, wenn man Sebald hieß.

Eine letzte Frage aus dem Madrider Publikum. Manche Schriftsteller, sagt ein schwedischer Journalist, seien nach der Zuerkennung des Nobelpreises erschlafft und hätten aufgehört. Ob das bei ihm auch zu befürchten sei? Da lacht Mario Vargas Llosa wie über einen guten Witz. Nein, er arbeite immer, sein Leben sei Schreiben, viele fänden das langweilig, er nicht. „Der Tod“, sagt er dann, „wird mich mit der Feder in der Hand antreffen.“


© REUTERS


Text: F.A.Z.
Bildmaterial: dapd, REUTERS